Durchlässige Körper und verletzliches Zuschauersein. Einblicke in die künstlerische Praxis der Choreografin Simone Truong

Text: Louise Décaillet

In ihrer Performance In the Middle of Nowhere – your Absence Fills the Space, die im Oktober 2019 am Zürcher Theater Gessnerallee aufgeführt wurde, geht die Choreografin Simone Truong das Thema der Migration minimalistisch an, indem sie es seiner ganzen mediatischen und diskursiven Aufladung entzieht. In einem dunklen Raum, der nirgendwo zu verorten ist, durchqueren behutsam gehende Tänzer*innen mit geschlossenen Augen das frei am Boden sitzende Publikum. Es passiert ab und zu, dass Körper kollidieren, oder, dass die Tänzer*innen bei den Zuschauer*innen verweilen. Nach einigen Minuten gelingt es ihnen, sich im Raum zu begegnen, zusammenzukommen und eine Gruppe zu bilden, welche sich in eine lebendige Skulptur umwandelt. Diese entwickelt sich zu einem organischen kollektiven Körper, setzt sich in Bewegung und löst sich immer wieder auf. Manchmal lösen sich einzelne Tänzer*innen von der Gruppe los, bewegen sich hinfort oder tanzen allein, ohne dass die Zuschauer*innen wissen, ob die Gruppe sie gerade ausstösst oder sie sich von ihr befreien. Später wird der Raum abgedunkelt. Unterschiedliche Stimmen sind nun zu hören, bis sie einen Chor bilden, der zwischen Harmonie und Dissonanz ständig oszilliert. Die Klänge überlappen und vermischen sich, während die den Stimmen in der Dunkelheit völlig ausgesetzten Zuschauer*innen am Boden verbleiben. Der Chor kulminiert sich dann in mehreren gemeinsamen Schreien. Als er sich wieder auflöst, sind schließlich nur noch leise, diffuse Stimmen und zerstreute Melodienfetzen im Raum zu hören.

 

Migrierende Körper – von der Verletzbarkeit zur Offenheit

Indem die Zuschauer*innen in der Gessnerallee in ein solches Nirgendwo eintauchen, erstellt Simone Truong zusammen mit den Tänzer*innen Cosima Grand, Jeanne Gumy, Tarek Halaby, Anna Massoni, Roger Sala Reyner und Adina Secretan ein Environment, in dem Begegnungen zwischen Körpern neu verhandelt und ihre Verbundenheit ständig erprobt werden. Die sich im Raum mit geschlossenen Augen bewegenden Tänzer*innen sowie die lebendige Skulptur, die sie immer wieder zusammenstellen, beschwören die Herausbildung und Auflösung einer Gemeinschaft, deren dauernde Bewegung ihren sowohl unverzichtbaren, ja existentiellen als auch zerbrechlichen Charakter suggeriert. Gerade in dieser Spannung liegt der Kern der Performance: Zwischen Allein- und Zusammensein migrieren Körper, die in diese Suche nach Bindungen auch die Zuschauer*innen miteinbeziehen.

Bereits in der 2008 mit ihrer Schwester, der Theaterschaffenden Monika Truong, und der Künstlerin Elaine W. Ho konzipierten Arbeit Overseas,[1] dessen Titel auf Auslandchinesen (die sogenannten „Overseas Chinese“) anspielt, befasste sich die Choreografin Simone Truong mit dem Thema der Migration, und zwar im Zusammenhang mit kulturellen Identitäten. Das umfangreiche Projekt umfasste sowohl Videos und Workshops zur Bewegungsforschung als auch diverse Experimente des Zusammenlebens mit Künstler*innen aus Zürich und Peking und ging der Frage nach, wie lokale Kontexte und interkulturelle Beziehungen Prozesse der Identitätsbildung zu beeinflussen vermögen.[2] Mit In the Middle of Nowhere – your Absence Fills the Space geht Simone Truong hingegen an das Thema der Migration als der Existenz innewohnenden Prozess des Übergangs heran, nämlich als liminaler Moment vom Vertrauten zum Unbekannten, von der Einsamkeit zur Bindung. Während sich die Tänzer*innen achtsam im Raum bewegen, sich versammeln, voneinander entfernen und hinter die Kulisse verschwinden, um schliesslich nur ihre Stimmen im Raum hallen zu lassen, laden sie das Publikum dazu ein, die Möglichkeiten einer emergenten Gemeinschaft sowie der Verbundenheit, die sie ausmacht, zu erfahren. Dies wird in erster Linie durch die Blindheit der Tänzer*innen verhandelt, welche von vornherein ein unsicheres, prekäres Verhältnis zum Umfeld bzw. zum Publikum erzeugt. Ihre geschlossenen Augen stiften vor allem Irritation im üblichen Akteur-Zuschauer-Gefüge: Indem sie auf das Sehen verzichten, treten die Performer*innen nicht nur ohne Kontrolle über den Verlauf der Performance auf, sondern setzen sich auch ihrer Umgebung bzw. den anderen Körpern aus und üben sich dabei in einem Zustand der Verletzlichkeit, wie es Simone Truong selber im Gespräch beschreibt.

Jedoch scheint die Performance dadurch weniger äussere Drohungen und Gefahren zu beleuchten, als mit der Erfahrung dieser körperlichen Ausgesetztheit experimentieren zu wollen. Weil die Blindheit die sinnliche Wahrnehmung neu organisiert, stiftet sie bei den Performer*innen eine schärfere Aufmerksamkeit auf somatische Reaktionen. Indem die Performer*innen den Schutz des Blicks aufgeben und sich somit dem Aussen frontal aussetzen, machen sie sich das zu eigen, was Judith Butler eine „fundamentale Verletzbarkeit“[3] nennt. In ihrer ethischen Überlegung zu den Begriffen „prekärer Leben“ und der „Verantwortung“ beschreibt nämlich Butler den Körper als „sozial ekstatische Struktur“, die „per definitionem sozialen Prägungen und Kräften unterliegt“[4], was die Verletzbarkeit zur Grundbedingung der menschlichen Existenz macht. Der Körper, schreibt Butler, ist immer schon „ausserhalb seiner selbst, in der Welt der anderen, in einem Raum und in einer Zeit, die er nicht kontrolliert[.]“[5] In dieser Hinsicht fungiert die Blindheit als Strategie, um den Körper mit seiner Exteriorität unmittelbar zu konfrontieren und sich der sozialen Exponiertheit, die ihm innewohnt, radikal anzunehmen. Diese für den Körper konstitutive Sozialität anzuerkennen, heisst allerdings auch, andersartige Bindungen und Formen des Mit- und Zusammenseins entwerfen zu können. In diesem Fall mag sich Verletzbarkeit in Offenheit umzuwandeln: Körper, die sich blind machen, setzen dadurch eine sinnliche Verfügbarkeit ein, welche die Möglichkeit anderer Erfahrungen des Begegnens und der Verbundenheit erahnen lässt. Die performative Praxis Simone Truongs, von der hier nur manche Aspekte betrachtet werden, gründet gewissermassen auf dieser fundamentalen Verletzbarkeit, um an einer zwischenkörperlichen Sozialität zu arbeiten.

 

Coming, Seeing, Keeping in Touch – eine Praxis der sinnlichen Besetzung

Mit der Funktion des Blicks und ihrer Stellung innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung beschäftigte sich Simone Truong zusammen mit den Choreografinnen Eilit Marom, Anna Massoni, Elpida Orfanidou und Adina Secretan bereits 2016 in der Gessnerallee uraufgeführten Arbeit (To) Come and See, die sich der individuellen und kollektiven Erotik widmete.[6] Dabei handelte es sich für fünf Tänzerinnen um einen Prozess des „Durcharbeitens“[7] von kulturellen, meistens von einem männlichen Blick geprägten Repräsentationen der Erotik, um sie dadurch zu vereiteln und Raum für eine neue Sphäre der Intimität zu schaffen. Somit wurde die Bühne für die fünf Tänzerinnen zum Spielraum, in dem Ambivalenzen von intimen Reaktionen und kulturellen Mustern performativ ausprobiert werden können. Die Bezeichnung der „sinnlichen Landschaft“ (sensual landscape), die Simone Truong bezüglich (To) Come and See verwendet, bringt vermutlich das Bestreben zum Ausdruck, die Zuschauer*innen körperlich anzusprechen und die Kontrolle anzuzweifeln, welche ihnen das Bühnendispositiv zuschreibt, indem es der Sicht den Vorrang vor den anderen Sinnen einräumt. Während die fünf Tänzerinnen sozusagen ein intimes Zimmer für sich allein schaffen, in das sich Zuschauer*innen aktiv einen Einblick verschaffen können hinterfragen sie nämlich das Privileg, das der Sicht nicht nur in der Erotik, sondern auch im Zuschauersein als ästhetisches Grundparadigma zukommt.[8] Deren Sinne und deren Begehren explizit adressierend, fordert eine Performance wie (To) Come and See die Macht und die Sicherheit heraus, welche die Zuschauerstellung üblicherweise charakterisieren: Sie setzt die Körper der Zuschauer*innen ihren Reaktionen aus und legt somit deren Verletzbarkeit offen. In dieser Hinsicht sorgt die Performance für einen „sinnlichen Blick“, der eine körperliche Verfügbarkeit bei den Zuschauer*innen sozusagen aktiviert und zugleich problematisiert: Entweder als voyeuristische Beobachter*innen oder als stillschweigende Kompliz*innen haben diese am Spektakel ohnehin Anteil.

Im Rahmen der Performance (To) Come and See veranstaltete dieselbe Tänzerinnengruppe im Zürcher Helmhaus auch den Workshop (To) Keep in Touch sowie ein dauerndes performatives Experiment namens (To) Give a Hand. Anlässlich dieser verteilten sich die fünf Choreografinnen in verschiedenen Institutionen der Stadt Zürich, um vielfältigen sozialen Gemeinschaften entgegenzukommen: An den Veranstaltungen beteiligten sich nämlich Schauspieler*innen mit zertifizierten geistigen Behinderungen vom Theater Hora, Senior*innen vom Tanztheater Dritter Frühling, Jugendliche aus der Atelierschule, Bachelorstudierende aus der ZHdK (Zürich Hochschule der Künste) und Mitwirkende der Autonomen Schule Zürich, welche Sprachkurse und kulturelle Aktivitäten für und mit Menschen u.a. mit Flucht- und Migrationshintergrund organisiert. Das aus (To) Come and See, (To) Keep in Touch und (To) Give a Hand bestehende Triptychon zielte darauf ab, „Modi und Bedingungen der sinnlichen Besetzung“ zu schaffen, „eine Praxis, die die Grenzen zwischen Zuschauer*innen und Performer*innen, führenden und mitfolgenden Positionen sowie äusserem und innerem Raum verwischt.“ [9] Mit diesem Ziel fokussierte etwa der Workshop (To) Keep in Touch auf das Spektrum des Berührens. Im Hinblick auf ihre Arbeit über die Erotik ging es den Tänzerinnen darum, wie Simone Truong im Gespräch berichtet, die Vielfalt des Berührens neu zu erforschen – einen Sinn, der laut der Choreografin kulturell zu oft an die erotische Sphäre geknüpft wird. Entsprechend lud (To) Keep in Touch dazu ein, zahlreiche Gesten und Kontaktformen in ihren somatischen, physiologischen, räumlichen, energetischen und sozialen Dimensionen zu erproben und aus diesen eigene Kataloge zu erstellen: Sind manche Berührungsformen im Alltag derart ritualisiert, dass sie nicht mehr als Praktiken des Berührens wahrgenommen werden, nehmen andere von vornherein intime oder gar sexuelle Konnotationen an. Die aktive und bewusste Wiederentdeckung des Berührens im Rahmen des Workshops liess wiederum die Grenzen der alltäglichen Sozialität und der Intimität verschwimmen, wobei die Teilnehmer*innen ihrer eigenen Wünsche gewahr wurden. Indem sie mit unterschiedlichen Berührungsformen experimentierten,[10] entwickelten sich zwischenkörperliche Begegnungen, die für ein auf Aufmerksamkeit und Sorgfalt beruhendes Verhältnis zu anderen Teilnehmer*innen sorgten.

Beim an den Workshop anschliessenden performativen Experiment (To) Give a Hand, das alle unterschiedlichen Gruppen im Helmhaus versammelte, wurde hingegen das Berühren nicht nur praktiziert, sondern auch beobachtet. Die in gemischten Duetten arbeitenden Teilnehmer*innen suchten sich dabei je nach ihren Wünschen einzelne Berührungsformen aus, die als „service tasks“ benannt wurden.[11] Diese wurden in Wunschpartituren bzw. choreografischen scores zusammengestellt, um sie an den jeweiligen Partner*innen auszuführen. Die Teilnehmer*innen, die durch diese „service tasks“ berührt wurden, blieben dabei passiv und hatten die Aufgabe, die Zuschauer*innen in die Augen zu schauen. Sobald die Wunschpartitur zu Ende war, bedankten sich jeweils die Choreograf*innen. Aus dieser Rollenverteilung bildeten sich Dreiecke, innerhalb deren unmöglich wurde, die Kontrolle über die Situation und die Machtpositionen zu verorten: Akteur*innen, die die Partitur ausführten, fungierten nämlich als Assistierende, ja quasi Therapeut*innen, wie Simone Truong im Gespräch beschreibt, während die Choreograf*innen, welche die Partituren erstellt haben, auf eine scheinbar passive Position verwiesen wurden – und dies im ständigen Kontakt mit den Zuschauer*innen. Es stellt sich also heraus, dass die tatsächliche Performance weniger in der Bewegungsausführung als im aufrechterhaltenen Blickkontakt zu erkennen ist: Dieser wird nämlich quasi buchstäblich auf die Probe gestellt, von den Zuschauer*innen beinah synästhetisch erfahren, und zwar durch den Versuch, den üblicherweise unmittelbaren Sinn des Berührens den Zuschauer*innen durch einen Blick zu vermitteln – „wenn sich zwei Augen in die Augen sehen, können wir sagen, dass sie sich berühren?“[12], fragte einmal Jacques Derrida in Voiles, einer poetisch-philosophischen Betrachtung zum Sehen und Berühren anhand einer Erzählung von Hélène Cixous. Simone Truong erzählt allerdings auch von Szenen, die das Zuschauersein selbst herausforderten, wie etwa der Moment, wo ein älterer Mann und eine jugendliche Frau zusammen auftraten. Indem der Blick das Publikum zum dritten Partner des Austauschs macht, wird dieses sozusagen sinnlich bzw. haptisch interpelliert, nämlich miteinbezogen. Dabei verschwimmen die drei Positionen des Akteurs, des Empfängers und des Beobachters: Durch das Bestreben, tatsächlich in touch miteinander zu bleiben, öffnet sich ein Feld der Verbundenheit, wo sich die Grenzen der individuellen Körper als durchlässig erweisen.

 

Choralität und Vielstimmigkeit – Formen des Zusammenseins

Solche Performances, die sich als sinnliche „Landschaften“ oder „Besetzungen“ verstehen, schaffen somit ästhetische Bedingungen, die unsere gegenseitige körperliche Exponiertheit und deren soziales Potential ans Licht bringen. Anhand performativer Erforschungen des Haptischen und des Begehrens versetzen Arbeiten wie (To) Come and See und (To) Keep in Touch die Zuschauer*innen nicht in die Stellung von losgelösten Beobachter*innen, sondern von durchlässigen Körpern, die als solche verfügbar bzw. ansprechbar werden. Weder verschmelzen sie dabei zu einem homogenen Publikum, noch stellen sie sich als einzelne Individuen heraus, nämlich als unteilbare soziale Entitäten, die wesentlich voneinander abgesondert wären: Vielmehr werden sie mit der Unmöglichkeit konfrontiert, sich sinnlich bzw. körperlich abzuschotten. Was dadurch freigelegt wird, ist eine emergente Verbundenheit, die, weil sie an den Körpern anhaftet, als spontan und unkontrollierbar erscheint. Im Environment von In the Middle of Nowhere – your Absence Fills the Space wird diese Unmöglichkeit, sich körperlich von der Umgebung bzw. den anderen Körpern abzuschotten, geradezu inszeniert sowie erprobt. Als sich etwa die blinden Performer*innen zu Beginn einen Weg durch das sitzende Publikum bahnen, finden hin und wieder zufällige Begegnungen statt, wobei sich Performer*innen bei Zuschauer*innen aufhalten, nach ihnen sogar tasten, um vorwärtskommen zu können. Ohne Blickkontakte ist die ungewohnte Nähe, die solche Momente erfahren lassen, ihres potentiell intrusiven Charakters entbehrt, genauso wie bei bestimmten Augenblicken, wo gewisse Performer*innen, noch mit geschlossenen Augen, ihren Blick auf bestimmte Zuschauer*innen zu lenken scheinen. Es entstehen somit flüchtige Begegnungen, die, weil sie von Zweifel geprägt sind, an Konfrontation einbüssen. Somit webt sich ein Netzwerk von Beziehungen im Raum, denen sich die Körper, weil sie immer schon von anderen umgeben werden und aufeinander stossen, kaum entziehen können. Die organische Gemeinschaft, die sich in der lebendigen Skulptur herausbildet, mag in ihrer ständigen Bewegung auch andere Mitkörper einbeziehen – das scheint zumindest die Performance erahnen zu lassen.

Sobald sich das Verhältnis zwischen den zwei Gruppen umkehrt und die Dunkelheit den Zuschauer*innen die Sicht raubt, kippen letztere in andere sinnliche Bedingungen, wo nun das Gehör vorherrscht. Das Publikum ist nicht mehr mit der körperlichen Präsenz der anderen konfrontiert, sondern wird deren Stimmen komplett ausgesetzt. Sobald diese Stimmen sich in ihrem rohen Zustand im ganzen Raum erheben, vermischen und überlappen sie sich, treffen manchmal Momente der Harmonie, um wieder auseinanderzufallen. Statt einen einheitlichen Chor zu bilden, hebt sich jede Stimme durch Dissonanzen und Reibungen von den anderen ab. Durch die Klangfarbe, durch die „Rauheit“ der jeweiligen Stimmen bleiben die Zuhörer*innen in körperlichem Kontakt mit den Singenden: Sie werden nämlich, wie Roland Barthes schrieb, auf ihren „Bezug zum Körper des oder der Singenden“ aufmerksam – ein Bezug, der Barthes im Übrigen mit der Erotik verknüpfte.[13] Somit eine Vielstimmigkeit anhörend wird das Publikum allenthalben sinnlich interpelliert bzw. körperlich angesprochen. Es stellt sich dadurch eine eigentliche Polyphonie zusammen, wo das Nebeneinander des Vielfältigen nie in eine dauerhafte Harmonie zusammenfällt. Genauso wie die Körper der lebendigen Skulptur beteiligen sich die Stimmen an einem organischen Ganzen, nämlich an einem Chor, dessen Zusammenhalt ständig prekär ist. Bald lässt letzterer anhand kürzerer und längerer Töne eine innere Organisation ahnen: Simone Truong erklärt nämlich, dass die Tänzer*innen das Stück Immortal Bach des norwegischen Komponisten Knut Nystedt anstimmen, das zusammen mit dem Chorleiter und Wahrnehmung-Psychopädagogen Jean-Baptiste Veyret-Logerias[14] erarbeitet wurde. Im Nysteds Stück nimmt der Chor zunächst die erste Zeile vom Bachs Sterbelied „Komm, süsser Tod“ wieder auf, um sie dann individuell in unterschiedlichen Tempi zu singen. Dadurch geht der Liedcharakter des Gesangs in der Überlagerung der unterschiedlichen Stimmen unter. Diese Struktur wird in In the Middle of Nowhere – your absence fills the space wiederholt: Mit der Linearität der Melodie brechend gehen die Stimmen im Raum auf, wobei der Gesang dreidimensional wird und, wie Simone Truong beschreibt, sich in einem Kaleidoskop von Klängen entfaltet. Als Inbegriff der Kunst des Kontrapunkts und der Chormusik fungiert Bachs Modell als die in der westlichen Musik dominante Vorstellung der Harmonie, wenn nicht sogar als Monument des europäischen Kontinents. Nysteds Stück erlaubt jedoch dieses Idealbild auseinanderzunehmen und es bis zum Schreien zu verzerren. Unauffällig spielt da die Inszenierung der Migration auf ein kulturelles Symbol an, das auch Assoziationen mit der aktuellen politischen Lage Europas hervorruft: Indem Bachs Gesang performativ umgedeutet wird, hinterfragt der Chor eine der einflussreichsten Musikreferenzen des Westens und plädiert dabei implizit für andersartige Formen der Harmonie. In der Tat werden die unterschiedlichen Stimmen, erklärt Simone Truong, geradezu choreografisch verräumlicht, sodass das Publikum durch diese von allen Seiten durchgedrungen, ja appelliert wird. Die klassische Harmonie wird durch eine echte Polyphonie ersetzt, in der jede Stimme zugleich individuell und in ihrer Differenz bzw. Beziehung zu den anderen wahrgenommen wird. In diesem kaleidoskopischen Chor wird das Singuläre in seinem Verhältnis zur Mehrzahl wahrnehmbar.

Es liegt also nahe, die Performance als eine rigorose Arbeit um den Begriff des Chors in einem erweiterten Sinne anzusehen, und zwar als Form des Zusammenseins, deren Grenzen unbestimmt sind – ein paar Stimmen aus dem Publikum haben sich auch während der Aufführungen dem Chor angeschlossen. Genauso wie die Körper der Performer*innen am Beginn der Performance scheinen nun die Stimmen nach den anderen, nämlich nach einer Gemeinschaft zu suchen: Neben blinden Begegnungen und kollektiven Bewegungen erweist sich das Mitsingen als gemeinschaftliche Praxis, ja als „Ethik des kollektiven Seins“[15], wie Jean-Baptiste Veyret-Logerias beschreibt. Die Polyphonie, die der Chor hallen lässt, birgt in sich ein Modell der Koexistenz zwischen Stimmen bzw. Körpern, wo letztere ohnehin zusammengehören, ohne dass diese Zusammengehörigkeit eine supra-individuelle Gestalt annimmt. Vielmehr weben sich durch das Zuhören und das Mitsingen inter-individuelle Beziehungen, die an sich eine Praxis des Zusammenseins entwickeln.[16] Gleichermassen versucht die ganze Performance von In the Middle of Nowhere – your Absence Fills the Space eine Zusammengehörigkeit erfahrbar zu machen, die nicht als allumfassende Vereinigung zu begreifen ist, sondern als emergente Verbundenheit zwischen durchlässigen, also sozialen Körpern. Liegt der Körper, wie Butler schreibt, immer „in der Welt der anderen“, sind wir zugleich auf dieser Welt nie allein.

 

Das Gespräch mit Simone Truong wurde von Louise Décaillet am 25. Oktober 2019 geführt.

 

Bibliographie 

Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1990.

Butler, Judith: Krieg und Affekt, aus dem Amerikanischen von Judith Mohrmann, Zürich/Berlin 2009.

Cixous, Hélène und Derrida, Jacques: Voiles, Paris 1998.

Veyret-Logerias, Jean-Baptiste: « Chant choral, choralité et éthique » 2017–2018. URL : http://jbveyretlogerias.free.fr/fr/notes.html (06.02.20).

 

[1] Siehe www.overseasproject.net
[2] Siehe www.overseasproject.net/beijing/main_en.html: “The term ‘overseas’ references those of Chinese heritage living outside of China, but rather than any claims to a particular identity, it is how we go beyond it towards relating to one another that remains the focus of our work. Identity can be a daily routine, it can be a performance. But the context, and the strength of the relation, are what enrich the process.”
[3] Butler, Judith: „Über Lebensbedingungen“, In: Butler, Judith: Krieg und Affekt, Zürich/Berlin 2009, S.25.
[4] Ebd., S.11.
[5] Ebd., S.39.
[6] Siehe http://simonetruong.org/index.php/project/to-come-and-see/.
[7] Die Tänzerinnen beziehen sich auf den psychoanalytischen Begriff von Freud, welcher den Prozess beschreibt, wodurch das Verdrängte des eigenen Unbewussten als solches erkannt und akzeptiert werden kann. Vgl.: https://tocomeandsee.com/test.
[8] Für eine psychoanalytische und feministische Untersuchung der Funktion des Blicks und die mögliche Herrschaftsposition, die dem westlichen Paradigma des Zuschauerseins innewohnt, siehe Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, New York 1993.
[9] Vgl. die Webseite des Gesamtprojekts von (To) Come and See: https://tocomeandsee.com/test.
[10] Der Workshop griff nämlich auf mehrfache Berührungsformen zurück: “Participants will be invited to (re)explore, step by step, the wide range of touch: on a somatic and physiological level (skin touch, muscular touch, bone touch), on a spatial level (non touch, distant touch, close touch), on an energetic level (awakening touch, calming touch, massaging), on a social level (annoying touch, healing touch, “mothering” touch) and on an imaginary and poetic level (“landscape” touch, “magic” touch).” (Vgl. Die Beschreibung des Workshops auf https://tocomeandsee.com/to-keep-in-touch.)
[11] Ebd.
[12] Freie Übersetzung dem Französischen, Vgl. Cixous und Derrida 1998, S.37: „Quand deux regards se regardent dans les yeux, peut-on dire qu’ils se touchent?“ – Derrida zitiert sich hier selbst und bezieht sich nämlich auf einen Text aus seinem damals auf Französisch noch nicht erschienenen Buch Berühren. Jean-Luc Nancy.
[13] Barthes, Roland, „Die Rauheit der Sprache“ In: Barthes 1990, S.277: „Die „Rauheit“ ist der Körper in der singenden Stimme, in der schreibenden Hand, im ausführenden Körperteil. Wenn ich die „Rauheit“ einer Musik wahrnehme und dieser „Rauheit“ einen theoretischen Wert beimesse […], so kann ich nicht umhin, mir eine neue vermutlich individuelle Bewertungstabelle zu erstellen, da ich entschlossen bin, meinen Bezug zum Körper des oder der Singenden oder Musizierenden zu hören und dieser Bezug erotisch ist, aber keineswegs „subjektiv“ (nicht das psychologische „Subjekt“ in mir hört; die Lust, die es sich erhofft, verhilft ihm nicht dazu, sich zu festigen – sich auszudrücken –, sondern, im Gegenteil, zum Selbstverlust).“
[14] Für mehrere Auskünfte über die Tätigkeit von Jean-Baptiste Veyret-Logerias als Chorleiter sowie seiner Forschung, siehe: http://jbveyretlogerias.free.fr/.
[15] Vgl. Veyret-Logerias, Jean-Baptiste : „Chant choral, choralité et éthique“, S.1: « […] la pratique du chant en chœur recoupe une forme d’éthique de l’être en collectivité : le son du choeur n’est pas seulement la somme des présences vocales individuelles ; il se passe autre chose qu’une simple juxtaposition ou addition ; on sent à l’oeuvre, dans l’espace entre les chanteurs et/ou dans l’espace entre les chanteurs et leur “chef” de choeur, une combinaison, une composition plastique du sonore qui existe à côté de, en plus de, ou parmi les voix individuelles. C’est cette composition plastique qui fait l’objet d’une éthique de la choralité. »
[16] Vgl. Ebd.