Fährten des Anthropozäns lesen

Text: Julius Schmidt

IM «ANTHROPOZÄN»?
Wir stehen am Anfang, einmal mehr. Da ist ein Neologismus, «Anthropozän», der aus den griechischen Wörtern «anthropos» (Mensch) und «kainos» (neu, ungewöhnlich, fremd) gebildet ist. Er ist anlog zu Epochennamen gebildet wie dem «Pleistozän», das 2,588 Millionen, und «Holozän», das 11’700 Jahre vor unserer Zeitrechnung begann. Der Neologismus steht im Zentrum der aktuellen Debatte darüber, ob eine neue erdgeschichtliche Epoche angesetzt werden soll: «Der Mensch sei durch seine Eingriffe in die Erde in einem so hohen Ausmass zu einem geologischen Faktor geworden, dass es einer neuen erdwissenschaftlichen Epoche bedürfe, um diese Entwicklung begrifflich zu spiegeln, und dieses neue Zeitalter des Menschen, das Anthropozän, habe mit der Industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert begonnen». Als Exemplar jener – zynische Metapher: – aussterbenden Spezies «Lyrikleser*innen» habe ich dieses Zitat dem Buch «Lyrik im Anthropozän» entnommen. Das irritiert, nicht? Gerade ging es noch um eine erdgeschichtliche Epoche, jetzt rede ich von Lyrik. Obschon das Epizentrum des Konzepts «Anthropozän» in einer Naturwissenschaft liegt, der Geologie, erschüttert es auch andere Bereiche – verschiedene Künste, die Kulturwissenschaften. Diese Erschütterung ist das Indiz für eine tektonische Verschiebung: Die Kontinentalplatten Kultur(wissenschaft) und Natur(wissenschaft) sind miteinander kollidiert. In den Rissen, die das Fundament durchziehen, keimen neue Denkräume. Ein Blick auf den Büchermarkt genügt, um sie zu entdecken. Hier breiten sich zurzeit Formeln auf den Schutzumschlägen wie «X in the Anthropocene» und «X im Anthropozän» aus. Folgende gibt es schon: Kunst im Anthropozän, Lyrik im Anthropozän, Leben im Anthropozän, Architecture in the Anthropocene, Culture in the Anthropocene, Art in the Anthropocene, Film in the Anthropocene, Anthropocene Psychology, the Anthropocene Lyric, Ecological Economics for the Anthropocene, A Bestiary of the Anthropocene. So schnell wucherte zuletzt
wohl nur das Konzept «Postmoderne». Bei solchen Frühblühern lohnt sich stets die Frage: «Was heisst das in diesem Zusammenhang?» Aber vielleicht will man hier überhaupt einmal wissen, was man sich darunter vorstellen kann. Ok, Beispiele. Die Gedichte in «Lyrik im Anthropozän» handeln von der Natur, wie sie sich uns heute zeigt: von der DNA ausgestorbener Tiere im Frozen Zoo San Diegos, von radioaktiven Wölfen in der Sperrzone Tschernobyls, von der Naturdarstellung in Computerspielen. Im «Bestiary of the Anthropocene» geht es um ausrollbaren Rasen; Plastikblumen; genetisch modifizierte Pflanzen und Tieren; Prothesen für Haustiere; angelegte Korallenriffe; plastikfressende Insekten; Plastik als Baumaterial in Vogelnestern; Trinit-Gestein, das ein Überrest von Nukleartests in Wüsten ist; gechipte Albatrosse, die illegale Hochseefischereien ortbar machen und anderem, was die Natur/Kultur-Grenze sprengt.

 

IM PHILOSOPHISCHEN BIOTOP

Aber sollte man überhaupt vom «Anthropozän» reden? Reproduziert das Wort nicht das bestehende Denken, das den Menschen ins Zentrum stellt? Wäre es nicht präziser, vom «Kapitalozän» oder «Chthuluzän» zu reden? So viele Fragen: Willkommen im philosophischen Biotop! Besonders zwei – zynische Metapher: – Geflechte gedeihen im wärmer werden-den Klima auffällig gut: «Unruhig bleiben» (2016) von Donna Haraway und «Das terrestrische Manifest» (2017) von Bruno Latour. Beide Bücher versuchen, so fundamentale Kategorien wie Geschichte, Subjekt, Sein zeitgemäss zu denken. 1) Geschichte. Geschichte muss nicht zwangsläufig «Geschichte des Menschen» heissen. An die Stelle der Nabelschau der Menschheit sollen Geogeschichten treten. Für diese müssen ein paar Anpassungen im Leitfaden zur Geschichtsschreibung bezüglich des Schauplatzes
und der Figuren gemacht werden. Die alte Kulisse – der Planet, der als ein stabiles, passives, physikalisches Objekt im kosmischen Nichts schwebt – wird ersetzt. Die Kulisse für Geogeschichten sei jener dünne, von Lebewesen durchwanderte Biofilm an der Erdoberfläche. Dieser «kritischen Zone» stehen die Lebewesen nicht einfach gegenüber. Sie sind Teil dieses aktiven dynamischen Gefüges – beispielsweise wirkt der menschgemachte Klimawandel auf das Machen der Menschen zurück. 2) Subjekt. Aus dem Leitfaden zum Verfassen von Geogeschichten wird die Vorstellung gestrichen, die einzigen Handelnden wären Menschen. Überhaupt gelte es, auch an der Mensch-Tier-Opposition vorbeizudenken. Daher ist die Rede von «Krittern» (Haraway), die sich allesamt in einem «Mit-Werden» befinden, oder «Terrestrischen» (Latour), die Abhängigkeit als etwas Positives schätzen. 3) Sein. Um endgültig mit der humanistischen Vorstellung zu brechen, human sein heisse «Mensch werden» – à la der Mensch muss Mensch werden! –, wird die etymologische Wurzel des Wortes «human», die Verwandtschaft von «Human» und «Humus» freigelegt. Human sein, heisse Humus, Materie im Kreislauf zu sein.

Die Formel zum Verfassen von Geogeschichten lautet also: Geogeschichten sollen von den miteinander werdenden «Krittern» erzählen, deren Leben sich auf dem dynamischen Biofilm der Erdoberfläche abspielt. Aber wozu zu dieser Erzählweise wechseln? Nun, sie antwortet auf die Frage, wie in unserer Gegenwart Geschichte zu denken ist. Aber was ist «Gegenwart» in diesem Sinne? Sie ist jener Zeitabschnitt, der durch ein Problem gestiftet wird, das unter den Namen «ökologische Krise», «Klimaerhitzung», «das sechste Massenaussterben» kursiert. Unsere Zeit ist jene, in der es «Fünf vor Zwölf» ist. Und es gilt nicht einfach zu fragen, wie sich Mitternacht vermeiden lässt, sondern wie die Welt zu verändern ist, um dieses bannhafte Bild aufzuheben. Hilft uns dafür das Denken Haraways und Latours? Vielleicht.

 

IN WINTERTHURS ARTOTHEK

Es gibt da also eine plattentektonische Verschiebung, die das öffentliche Gespräch aufrüttelt, das «Anthropozän». Und es gibt da ein neues philosophisches Biotop, in dem Ökologie und Philosophie sich vermischen. Und dann gibt es da eben auch noch diese Stadt, in der ich lebe und deren heutige Gestalt fundamental von der aufkommenden Industrie des 19. und 20. Jahrhunderts geformt wurde. Eine Industrie, die abstarb, sodass am Ende des 20. Jahrhunderts die Kultur, wie ein Einsiedlerkrebs, in ihre leeren Hülsen Einzug hielt. Winterthur.

 

EIN ALGENBRUNNEN IN DER GISI
Im düsteren Quantum Winterthurs Soundsphäre donnert Musik – System der Dinge, N3<ØM∆†∆, Mateo Hurtardo, G.H.3is†. Im September 2021 sehe ich, wie es aussehen könnte, wie es sich verfestigt zu bildender Kunst. In der Gisi, dem seit 1997 besetzten Haus an der General-Guisan-Strasse, stellt das Kollektiv Kunstvereingeld (Ivana Jurisic und Moritz Schweizer) die Installation «No Para No Novac» aus. Durch ein Fenster hindurch gelange ich in ein Zimmer, in dem Regale einen höhlenartigen Gang formen. In einem der Fächer liegen versteinerte Smartphones. In einem anderen steht eine Lampe, die zugleich futuristisch und archaisch aussieht.
Es riecht nach Kombucha, dem Trendgetränk, das man inzwischen im Sortiment der grossen Supermärkte findet. In der Ecke vor mir plätschert es, Wasser fliesst über eine glibbrige, organische Masse: Ein Brunnen gebaut aus S.C.O.B.Y (symbiotic culture of bacteria and yeast) – braunen Algenfladen. An der Wand leuchtet ein zersprungener Bildschirm. Darauf läuft ein grotesk animierter Cyborg in Endlosschlaufen allein durch eine Wüste. Das Grobe, Rohe, Brutistische der Installation erinnert an die Rebellion der historischen Avantgarde (des Dadaismus, Expressionismus, Surrealismus) gegen die Moderne.
Das hiess gegen die «Entzauberung der Welt», die «Rationalisierung», die «Versachlichung», die «Verdinglichung», den «objektiven Geist». Damals wurde das «Primitive» zur – exotistischen – Zuflucht. Es schien ein von der Moderne unberührtes Gebiet zu sein. Wie auch immer, das «Primitive» der Installation «No Para No Novac» ist anders zu verorten. Die Dinge, die mich hier umgeben, scheinen aus einer Welt zu kommen, in der die Zivilisation zusammengebrochen sein wird. In ihr sind unsere Technik, unsere Maschinen, unsere Computer nur noch okkulte Artefakte, Fossilien, Ruinen einer untergegangenen Welt. Dieser Futuro-Primitivismus implantiert unserer Gegenwart eine erahnte Entwicklung. Die entscheidende Frage ist nun also, was sagt dieses Bild von der Zukunft über die Gegenwart aus, der es entspringt? Unumgänglich – vielleicht, wegen dem Ausstellungsort – kommt mir jene Redewendung der gegenwärtigen kritischen Theorie in den Sinn: Es sei einfacher, sich das Ende der Welt, als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Sie stammt vom amerikanischen Marxisten Frederic Jameson, wurde vom slowenischen Hegelianer Slavoj Zizek popularisiert und fand ihre treffendste Erklärung durch den englischen Kulturwissenschaftler Mark Fisher: Sie bedeute, dass der «kapitalistische Realismus» (der Glaube daran, dass die kapitalistische Art, die Welt zu gestalten, auch die realistischste sei) selbst die antikapitalistischen Zukunftsvisionen kolonialisiert habe. Das werde daran ersichtlich, dass diese in der Alternative hyperkapitalistische Technokratie oder anarcho-primitivistischer Naturzustand verfangen seien. Als wäre die einzige Antwort auf Margareth Thatchers «There is no alternative (to capitalism)» der Verzicht auf moderne Technologie. Die Installation zeigt, dass uns das abhanden gekommen ist, was der Philosoph Ernst Bloch «konstitutive Phantasie» nannte, eine schöpferische Fantasie, die einen zukünftigen Gesellschaftszustand erahnen lässt. Haraway scheint in eine ähnliche Richtung zu gehen, wenn sie angesichts der Frage, wie in der Gegenwart zu handeln ist und wie sie sich neu denken liesse, einen Sci-Fi-Realismus fordert, der uns eine neue Perspektive auf die Welt eröffne. Aber «No Para No Novac» so zu deuten, verpasst womöglich, dass beispielsweise in diesem Brunnen aus selbstgezüchteten Algenfladen bereits Momente eines Sprungs enthalten sind. Ein anderes Verhältnis zwischen Material und schöpferischer Arbeit.

 

MONOKULTUREN AN DEN KURZFILMTAGEN

November 2021. Der Saal ist dunkel. Bilder flimmern über die Leinwand. Ich bin an den 25. Internationalen Kurzfilmtagen im Casino Theater Winterthur. Mir steht eine Reihe von Filmen aus dem von Matthias Sahli kuratierten Programm «Cultivated Landscapes: No Stone Left Unturned» bevor. Im Programmheft stand: «Die menschengemachte topografische Transformation weltweit ist grösser als die natürliche, durch Wasser und Wind verursachte Erosion». Die Filme illustrieren diese Aussage. Ich sehe minutenlang durchs Auge einer Drohne, die über endlose Monokulturen fliegt. Ich sehe die Choreographie von Arbeitern und Baggern beim Abbau riesiger Marmorplatten; Maschinen, die weisses Kalksteinpulver über Waldböden versprühen; Trampelpfade, auf denen Tourist*innen vom Zeltlager zum Mount Everest gelangen. Gemein ist den Filmen dabei nicht nur die thematische Richtung, auch ihr Stil ähnelt sich streckenweise: «distanziert», «ästhetisiert», «unkommentiert». Ich sehe scheinbar endlose Monokulturen, aber nicht, welche Rolle ihnen in der «Global-Food-Chain» zukommt, welche Arbeitsbedingungen in diesen Agrarfabriken herrschen, welche Folgen der Anbau für Bodenqualität und Biodiversität haben. Der Kurzfilm lässt mich «sprachlos» zurück. All die Ornamente, die unter dem technischen Blick der Drohne dahinziehen. All die repetitiven Muster. Was habe ich da wirklich gesehen?
Viele der Filme, nicht nur der eben beschriebene «Imperial Valley» von Lukas Marxt – der mir besonders herausragend, daher kritikwürdig scheint – tendieren zeitweise zu einer «Bildmystik», die das «Erhabene» heraufbeschwört. Sie bildet beim Schauen oft den spannungstechnischen Höhepunkt, ist aber stets auch der Moment, an dem die Filme an die Grenze dessen stossen, was sie jeweils als ihren Stoff wählten – Monokulturen, Mount-Everest-Tourismus, Kalkstein-, Marmorabbau. In diesen Momenten verlieren sich die Filme in ihrer technischen Vollkommenheit. Ästhetisch abgeschlossen, in sich stimmig, begrenzt durch ihre allzu perfekte Stimmigkeit. Keiner Diskrepanz ausgeliefert, verliess ich den Kinosaal entspannt-empört kontemplierend. Ein Kunstgeniesser eben.

weitere Kurzfilme:

Kaltes Tal
Il Capo
E.B.C. 5300 m
ORE, 2016 von Claudia Larcher

 
KAKERLAKEN IN DEN OXYD KUNSTRÄUMEN

April 2022. Ich fahre durch die Gegend, aus Langeweile. Vorm Salzhaus treffe ich einen Bekannten. Er sagt, es gebe hier gleich eine Performance. Ohne Erwartungen steige ich die Treppe in den Keller hinab, hinein in die Kunsträume vom oxyd. Nach einer Weile erklingt Musik. Dann tritt jemand, tobibienz, ans Mikro und erzählt. Erzählt davon, in Hong Kong an einem der Massenproteste der Demokratiebewegung teilgenommen zu haben, wie die Polizei eingriff, Gewalt ausbrach. Erzählt vom Dach eines Hochhauses, das sich in dieser chaotischen Nacht, in der die Lage der Welt aussichtslos schien, in ein Refugium verwandelte. tobibienz sagt etwas in  Richtung: «Was hilft all die Kunst und all das Reden der Denker*innen? Ist die Sprache überhaupt zu etwas nütze?» Dann wechselt der Ton: In dieser Nacht der Frustration, Resignation, Verzweiflung habe tobibienz sie gefunden, die grosse Liebe. Die Liebe zu den Kakerlaken. Die Erzählung endet, die Performance geht weiter. Alle sind dazu eingeladen, am Boden auf einem pinken Plüschfell zu diskutieren. Dabei wird eine Kakerlake von Hand zu Hand gereicht. Zudem steht in einer Ecke ein Terrarium, dessen Boden ein Bildschirm ist. Auf diesem läuft ein Film: tobibienz kriecht nackt in einem kleinen Innenhof über den Steinboden. Die Kamera filmt senkrecht von oben. Da das Terrarium auf dem Boden steht und der Bildschirm, auf dem dieser Film läuft, der Boden des Terrariums ist, müssen die Zuschauer*innen auf tobibienz herabblicken. Sie blicken auf diesen Körper, wie man sonst auf Käfer, Kakerlaken, «Chrabbler» blickt. Unterdessen erzählt tobibienz auf dem pinken Plüschfell von diesem gefilmten Versuch, eine Kakerlake zu werden. Es ist die Rede von wunden Knien und Kälte. Mit anderen Worten, ohne dass das gross angesprochen wird, von den körperlichen Grenzen, an die der Versuch tobibienz trieb. Ich komme nicht umhin, bei den «Chrabblern» an Haraways «Kritter» zu denken. Und irgendwie bewundere ich die Konsequenz dieser exzentrischen Performance. Hier lässt sich jemand auf die eigene Naivität ein (auch die Beschreibung der Performance schwächt diese Naivität nicht ab «I am not an Insect – once again we try to make a metamorphosis. becoming…  always becoming…»). Hier wagt es jemand ins Blaue hinein, eine Kakerlake zu werden. Interessanter als die Performance sind aber doch die wunden Knie, die Punkte, an denen sie scheitert. Wenn es heisst, dass die Künstler*innen und ihr Machen nichts nützen, dann verurteilt diese Aussage zugleich den künstlerischen Rahmen – die Performance –, in der sie geäussert wird. Und man mag ebenfalls sagen, die menschliche Sprache würde nichts nützen, doch man ist in diesem Moment auf sie angewiesen, um eben das zu sagen. Und trotzdem … was wiederum nützt es, auf dieses Scheitern hinzuweisen?

 

Julius Schmidt ist Redaktor beim Kulturmagazin Coucou und doktoriert an der Universität Zürich im SNF-Projekt “FORM. Generic Ambiguity in Narrative Fiction (1800-1930)”. Der Artikel erschien im Kulturmagazin Coucou N°108 August 2022.