Gewalt am Körper, Widerstand im Chor. Politiken zeitgenössischer queerfeministischer Performances

Text: Louise Décaillet

Am 11. Dezember 2021 demonstrierten in den Strassen von Zürich über tausend Menschen gegen Femizide. Obwohl dieses Anliegen zum ersten Mal in der Schweiz so viele Menschen versammelte, gelangte es bereits 2019 in den öffentlichen Raum als das feministische Streikkollektiv Zürich den Helvetiaplatz in Ni-Una-Menos-Platz umbenannte. Dieser Slogan wurde den Massenprotesten von 2015 entlehnt, die in Argentinien zunächst gegen Frauenmorde und später gegen jegliche Art von geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung initiiert wurden: Ni una menos, vivas nos queremos (Nicht eine weniger, wir wollen sie lebend). Der Begriff Femizid wurde in den 1970er-Jahren geprägt und bezeichnet die Tötung einer Frau aufgrund eines angeblichen Verstosses gegen die Rollenvorstellungen von Männern und Frauen, die sich aus Traditionen und sozialen Normen ergeben.[1]  Mit dem Fokus auf die Position der Frau bringt die Definition dieses Begriffs die strukturelle Gewalt – patriarchale Traditionen, heterozentrische Normen – zum Ausdruck, die sich am deutlichsten am Körper von Frauen, inter, non-binären, trans oder agender Personen (FINTA) manifestiert. Die Resonanz der Ni Una Menos-Bewegung hat diese Art von Gewalt, die von Staat und Medien meist auf die Privatsphäre reduziert wird, zum Gegenstand des transnationalen Kampfes und der Solidarität gemacht.

Die Demonstration vom 11. Dezember 2021 startete auf dem Ni-Una-Menos-Platz und führte in das Herz der Bahnhofstrasse. Dort stoppte der Demonstrationszug, um eine Stimme über Lautsprecher eine Reihe von Frauenmorden aufzählen zu lassen, die im Laufe des Jahres in der Schweiz begangen wurden. Während das Datum, ein fiktiver Name und die Umstände der Tötung genannt wurden, rief jeder erwähnte Femizid die Demonstrant*innen dazu auf, im Chor Presente!  zu rufen. Mitten in der bewegten Strasse drückte das spanische Wort sowohl Betroffenheit als auch Aufbegehren aus: Anstatt die individuelle Resilienz zu stärken, machte die Demonstration aus der Trauer eine kollektive Widerstandserfahrung. Mit dem Dialog zwischen einzelnen Fällen und kollektiver Reaktion, vereinzeltem Verschwinden und pluraler Präsenz, zwischen der Stimme aus dem Lautsprecher und dem Demonstrationschor verwirklichte dieser Moment das Motto auf dem Banner, das den Zug anführte: Nehmt ihr uns eine*n – antworten wir alle!  Indem sie Stimmen, Handlungen und Körper in eine begrenzte Raum-Zeit einbindet, geht die Demonstration über ihre Funktion als Protest hinaus: Sie wird selbst zu einer Performance, die, mit Judith Butler gesprochen, die Solidarität und den Widerstand, zu denen sie aufruft, inszeniert.[2]  Diese Art von Performances, ob in Form einer einzelnen künstlerischen Aktion oder einer Massendemonstration von globalem Ausmass, erweist sich als zentral für den zeitgenössischen Kampf gegen patriarchale Gewalt.

 

Von der lokalen Choreografie zur transnationalen Bewegung

Dieses Verständnis von Performance wurde in der Choreografie und dem Lied Un violador en tu camino des chilenischen queerfeministischen Kollektivs LASTESIS («die Thesen») besonders anschaulich umgesetzt. Im November 2019, als die chilenische Polizei gewaltvoll gegen die Proteste gegen soziale Ungleichheit vorging, führten LASTESIS ihre Performance zum ersten Mal auf dem Aníbal Pinto-Platz in Valparaíso auf. Die Augen mit schwarzen Augenbinden verdeckt, begleitet von einem kraftvollen Bassrhythmus, skandierten die vier Mitglieder des Kollektivs – Dafne Valdès, Paula Cometa, Sibila Sotomayor und Lea Cáceres – im Chor: Das Patriarchat ist ein Gericht,/wir sind verurteilt durch Geburt,/und unsre Strafe/ist die Gewalt, die du nicht siehst./Das Patriarchat ist ein Gericht,/wir sind verurteilt durch Geburt,/und unsre Strafe/ist die Gewalt, die du jetzt siehst./Der Femizid./Mein Mörder kommt straffrei davon./Dass man uns verschwinden lässt./Die Vergewaltigung. […][3] Das Lied und seine Choreografie aus einfachen, aber eindringlichen Gesten verbreiteten sich viral in den sozialen Netzwerken; der Refrain wurde übersetzt und auf den Strassen der Welt skandiert: Und es war nicht meine Schuld, nicht wo ich war, nicht was ich trug. […] Der Vergewaltiger bist du/Es sind die Bullen, die Richter. Es ist der Staat. Der Präsident.[4] Auch in Zürich begleitete ein Remix des Liedes die Demonstration vom 11. Dezember.

Die symbolische Tragweite der LASTESIS-Choreografie und ihre Verbreitung über die ganze Welt deuten auf die Entstehung einer transnationalen Solidarität im Zusammenhang mit sexueller Gewalt hin. Doch jede Wiederholung der Performance verdeutlicht zugleich den bittererweise nicht minder transnationalen strukturellen Charakter dieser Gewalt. Genau das prangert die Performance an, indem sie Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit – Vergewaltigung, Femizid – mit einer direkten Anklage gegen die herrschenden Machtinstanzen verbindet. Wenn die Performerinnen im chilenischen Kontext El Estado opresor es un macho violador (Der unterdrückende Staat ist ein vergewaltigender Macho) skandieren, ist die Vergewaltigung Symptom und Symbol der gesamten unsichtbaren Gewalt, zu der der Staat beiträgt oder die er aktiv aufrechterhält und die LASTESIS in ihrem Manifest ¡Quemar el miedo! (Verbrennt eure Angst!) beschreiben:[5] das gewöhnliche Verschweigen von Vergewaltigungen, die Verharmlosung von Femiziden durch die Justiz, die Einschränkung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch und der damit einhergehende Tod von Frauen sowie die polizeiliche Gewalt. Letzterer wird in der Choreografie verbildlicht, wenn die Performerinnen die Arme hinter den Kopf legen und in die Knie gehen, um ihre Sätze zu betonen. Die Performance zitiert hier eine Geste, die chilenische Polizist:innen den verhafteten Demonstrant:innen nackt auszuführen befahlen. Eingebettet in die Choreografie deutet es an, was die Performancetheoretikerin Diana Taylor, auf die sich LASTESIS beziehen, als Repertoire bezeichnet hat, nämlich das Wissen, das Körper aufbewahren und weitergeben (embodied knowledge).[6] Wenn sich die Erniedrigung durch die Ordnungskräfte in die Körper einschreibt, dann schreibt ihre Wiederaneignung und Wiederholung durch die Choreografie sie in einen Ansatz des Widerstands ein.

 

Für ein queerfeministisches Verständnis von widerständigen Körpern  

Die künstlerische Tätigkeit von LASTESIS artikuliert somit Erfahrung und Performance, Gewalt und Widerstand, Thesen und Praxis. Stark inspiriert von den Analysen der marxistischen Denkerin Silvia Federici, basiert sie auf der Kontrolle und Ausbeutung der Frauenkörper[7] durch Sexualität, soziale Reproduktion und Lohnarbeit: Die Körper der Frauen und ihre reproduktive Funktion sind Stützen des Kapitalismus, und folglich können wir unsere Körper als ein Gebiet der Ausbeutung, aber auch als eines des Widerstands begreifen[8], schreiben sie in ihrem Manifest. Anders als die Schriften Federicis gehen die Thesen ihres Manifests durch ihre intersektionale Ausrichtung über die Kategorie Frau hinaus. Sie richten sich daher sowohl an cis Frauen als auch an Mitglieder der LGBTQIA+ Gemeinschaft, die LASTESIS als dissidente Personen bezeichnet:

Folgerichtig laden wir alle zur Teilnahme an unseren Interventionen ein, die nicht zum Offiziellen, Akzeptierten und Hegemonialen gehören. Die Körper von Frauen und dissidenten Personen sind symbolisch aufgeladen mit den Gewalttaten, denen sie als kollektiver Körper ausgesetzt sind, sie treten den unterdrückerischen Institutionen entgegen und bilden einen einzigen, herausfordernden Körper. Wer der Normativität, dem Verbreiteten entgegentritt und das bei Sexualität und Gender binäre System herausfordert, stellt alles in Frage: die Rollen, die Pflicht zur Mutterschaft und die traditionelle Familie.[9]

Die Performances von LASTESIS inszenieren somit ein queerfeministisches Denken des Körpers. Ausgehend von den Angriffen auf die Körper von Frauen werden Bündnisse mit einer Vielzahl von Körpern geschmiedet, die geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt sind und sich gegen Patriarchat und Heteronormativität zusammenschliessen. Bewegungen wie Ni Una Menos oder der polnische  schwarze Protest  (czarny protest) gegen die Einschränkungen des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch zeigen, dass die Forderungen nach dem Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper tatsächlich zu einer Solidarität führen, die nicht auf einer geteilten Identität, sondern auf gemeinsamen Emotionen und politischen Zielen beruht.[10] Mehr als Solidaritätsbekundungen verkörpern queerfeministische Demonstrationen einen sich auf globaler Ebene ausbreitenden Widerstand, der von vielgestaltigen und ansteckenden Kollektivkörpern getragen wird. Es ist diese nicht-identitäre Macht der jüngsten queer-feministischen Kämpfe, die die Philosophin Isabell Lorey als Feminismus der Multitude bezeichnet hat, der sich durch heterogene Konfluenzen und transnationale Bündnisse verbreitet und durch die Übertragung von Affekten, wie sie in Ni Una Menos’ Slogan Tocan a una, tocan a todas (Sie berühren eine, berühren sie alle) zum Ausdruck kommt.[11] Vor dem Hintergrund dieser Massenbewegungen symbolisiert die Choreografie von LASTESIS vielleicht die stets im Entstehen begriffene Organisation dieser Multitude. Durch ihre virale Verbreitung, schreibt das Kollektiv, habe die Performance ein transkontinentale[s] Monstrum geschaffen, das unmöglich zu kontrollieren sei: Wir […] hoffen, dass es weiterwächst, dass es riesenhaft wird, unmöglich zu übersehen, unmöglich, den Blick anzuwenden, die Ohren zu verschliessen, weil es so laut wird, dass es auf der ganzen Welt widerhallt.[12]

 

Dieser Beitrag wurde im FemInfo 60, 2022 im original veröffentlicht und von Nina Seiler aus dem Französischen übersetzt.

[1] https://www.europeandatajournalism.eu/ger/Nachrichten/Daten-Nachrichten/Frauenmord-in-Europa-Ein-Vergleich-zwischen-unterschiedlichen-Laendern [30.01.22]. Der Begriff wurde erstmals 1976 von der südafrikanischen Aktivistin Diana Russell verwendet.
[2] Siehe Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, übers. v. Frank Born, Berlin: Suhrkamp 2016; Taylor, Diana: Performance, übers. v. Abigail Levine, Durham/London: Duke University Press 2016.
[3] LASTESIS, Verbrennt eure Angst! Ein feministisches Manifest, übers. v. Svenja Becker, Frankfurt a/M: Fischer 2021, S.117.
[4] LASTESIS, S.118
[5] Siehe LASTESIS, a.a.O.
[6] Siehe Taylor, Diana: The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas, Durham/London: Duke University Press 2003; LASTESIS, op.cit., S. 67.
[7] Siehe Federici, Silvia: Das Lohnpatriarchat. Texte zu Marxismus & Gender, übers. v. Leo Kühberger, Wien: Mandelbaum 2021. Der Begriff «Frau» bezeichnet für LASTESIS «alle Personen, die sich subjektiv als solche begreifen, unabhängig von den Genitalien.» (LASTESIS, op.cit., p.13)
[8] LASTESIS, op.cit., S. 41.
[9] LASTESIS, op.cit., S. 64-65.
[10] Siehe Szczawińska, Weronika: The Herstory of the Black Protest. Solidary Fight for Democracy, https://crisisandcommunitas.com/?communitas=the-herstory-of-the-black-protest-solidary-fight-for-democracy [1.02.22].
[11] Siehe Lorey, Isabell: Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2020.
[12] LASTESIS, op.cit., S. 136.