Ein Dialog über die Postanthropozentrik

Text: Michael D. Schmid Thimothée Melly

Thimothée Melly: Donna Haraway bezieht sich in ihrem Buch Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene (2016)[1] auf schon existierende Begriffe wie Anthropozän und Kapitalozän. Sie führt aber auch neue Begriffe ein, u.a. den des Chthuluzäns. Der Begriff des Anthropozäns bezeichnet eine Epoche, in welcher der Mensch die Welt tiefgreifenden geologischen und biologischen Transformationen unterzieht. Der Begriff Kapitalozän hebt im Gegenteil zu Anthropozän hervor, dass diese Transformationen mit einem spezifischen Wirtschaftssystem (dem Kapitalismus) zusammenhängen.

Michael D. Schmid: Der Begriff Anthropozän stammt vom griechischen Wort kainos (Neue Zeit, Jetztzeit) und von anthropos (griechisch für Mensch). Unter dem Begriff wird ein Zeitalter bezeichnet, in dem der Mensch die Landschaft, Vegetation, Geologie und Klima massgeblich prägt. Eingeführt wurde der Begriff 2000 von Paul Crutzen. Das Kapitalozän stammt vom italienischen Wort capitale (Vermögen) und beschreibt das Zeitalter des Kapitalismus. Der Begriff entstand um 2010. Das Chthuluzän kommt aus dem Griechischen khthôn (erdgebundene Wesen) und wurde von Haraway 2016 mit dem Buch Stying with the Trouble eingeführt.

Thimothée Melly: Mit dem Begriff Chthuluzän schlägt Haraway eine konzeptuelle Verschiebung vor, mit der sie traditionelle, westlich geprägte Vorstellungen wie „menschlicher Exzeptionalismus“ und „eingeschränkter Individualismus“ (47) verabschieden möchte. Der Begriff Chthuluzän ist ein Neologismus, genauer gesagt ein Kofferwort zusammengesetzt aus dem Namen einer Spinne, Pimoa cthulhu (48), und dem Wort chthonisch, das sich auf „BewohnerInnen der Tiefen“ (48) in der griechischen Mythologie bezieht. Mit dem Chthuluzän entwirft Haraway „einen Namen für ein Anderswo, für ein Anderswann, das war, immer noch ist und sein könnte“ (49). Dabei hebt Haraway hervor, dass Begriffe unterschiedliche (implizite?) Geschichten mit sich transportieren. Diese Geschichten sind laut Haraway nicht harmlos, weil sie vorherbestimmen, was überhaupt denkbar ist. Statt die individualistisch, männlich und westlich geprägte Geschichte zu entmystifizieren schlägt sie einen anderen Weg vor: In Staying with the Trouble erzählt sie selbst eine alternative, assoziativ hergestellte Geschichte, die des Chthuluzäns, die weniger anthropozentrisch, männlich westlich und dichotomisch geprägt ist. Haraway bietet somit eine subversive Metareflexion über traditionelle Formen des Denkens und des Erzählens.

Michael D. Schmid: Für mich ist Haraways Text nicht klassifizierbar. Und vor allem nicht klassisch. Der Text erhebt den Anspruch, das Klassische und die althergebrachten Klassifikationen zu überwinden. Er zieht sich zurück. Er lässt sich nicht einfangen. Zudem wirft der Text Fragen auf: Ist Staying with the Trouble eine wissenschaftliche Arbeit? Ist der Text eine politische Streitschrift? Ist er ein Kunstwerk? Für eine klassische wissenschaftliche Arbeit ist er zu engagiert, die Argumentation zu assoziativ. Für eine klassische politische Streitschrift stellt der Text zu wenig konkrete Forderungen. Für ein klassisches Kunstwerk präsentiert sich der Text als zu sachbezogen. Ist der Text also ein politisch engagiertes wissenschaftliches Kunstwerk? Verbindet er die Genres, indem er sich ihrem klassifizierenden Zugriff entzieht. Womit könnte man Haraways Text dann vergleichen? Etwa mit dem Lehrepos De Rerum Natura von Lucretius? Ist Haraways Text deskriptiv? Ist das Chthuluzän eine empirisch beobachtbare Tatsache? Oder ist Haraways Text normativ? Ist das Chthuluzän eine Forderung, die es durch Umstrukturierungen des Denkens (und der Politik) einzulösen gilt? Der Text zieht sich meiner Meinung nach formal zurück. Aber er zieht sich offensiv und progressiv zurück. Er entzieht sich sozusagen dem Zugriff. Aber er greift auch selbst zu, und zwar auf die Welt. Er revoltiert. Er stösst inhaltlich nach vorne und zielt auf eine Revolte des Denkens.

Thimothée Melly: Haraways Zugang scheint mir methodologisch hilfreich, zunächst einmal deswegen, weil er sichtbar macht, wie scheinbar deskriptive Begriffe doch auch bestimmte Vorstellungen mittransportieren können. Spezifischer stellt sich bezogen auf die traditionellen Kunstauffassungen die Frage, was für alternative Geschichten uns der Begriff „Interart“ unter Haraways Zugang erzählen könnte. Das englische Wort „art“ bedeutet auf Deutsch „Kunst“. Das Wort „Interart“ ist aber auf Deutsch polysemisch viel reicher, weil „Art“ eine Spezies, eine Sorte, eine Methode, eine Weise, eine Wesensart, etc. meinen kann. Nimmt man diese Polysemie wahr, ist ein neuer Zugang zu Interart möglich, der nicht nur die „künstlerischen“ Aspekte betont.

 

Die Tentakulären

Thimothée Melly: Wie im Titel von Haraways Buch angedeutet geht es mit dem Chthuluzän u.a. darum, eine neue Art von Verwandtschaft (engl. „kin“) zu schaffen. Diese Verwandtschaft erfasst Haraway unter dem Namen der „Tentakulären“:  „Die Tentakulären […] sind Nesseltiere, Spinnen, fingernde Wesen, beispielsweise Menschen und Waschbären, Tintenfische, Quallen, neuronale Extravaganzen, faserige Gebilde, Peitschenwesen […] (49)

Haraway performiert durch die Struktur ihrer Aufzählung eine Infragestellung des menschlichen „Exzeptionalismus“. Die Kategorie „Menschen“ tritt als Unterkategorie „fingernde[r] Wesen“ neben „Waschbären“. Indem Haraway in ihrer tentakulären Taxonomie die neue Unterkategorie („fingernde Wesen“) einführt, stürzt sie traditionelle Klassifizierungsmuster um, die Menschen durch bestimmte Arten von Differenzen (beispielsweise Intelligenz oder Sprache) von anderen Lebewesen unterscheiden und dadurch gleichzeitig oft an die Spitze der Hierarchie stellen. Haraways Aufzählung geht sogar soweit, Menschen und „faserige Gebilde“ derselben tentakulären Eigenschaft zuzusprechen, was die Frage nach der Bezugsgrösse zwischen den verschiedenen Kategorien aufwirft: Faserige Gebilde können zwar in Menschen enthalten sein, sie können aber auch vieles Anderes sein.

Michael D. Schmid: Haraways Text hat keine Struktur, der es zu folgen gilt. Die Begriffe und Konzepte tauchen immer wieder in unerwarteten Zusammenhängen auf. Die zentralen Konzepte und Thesen sollen daher nicht entlang des Textverlaufs zusammengefasst werden, sondern in Form eines Netzwerks, einer String Figure. Ich habe das in einem Bild zusammengestellt: affirmierte Konzepte sind grün, abgelehnte rot gekennzeichnet.

 

„SF“ oder das „Spielfäden“-Modell

Thimothée Melly: Das Akronym „SF“ kommt in Haraways immer wieder vor und weist auf sehr unterschiedliche Begriffe hin, die ich im Folgenden Auszug fett markiert habe:

„Die Tentakulären verwickeln mich in SF. Ihre Gliedmassen sind Spielfäden in Fadenfiguren. Sie verwickeln mich in poiesis, in das Herstellen von spekulativen Fabeln, Science-Fiction, science fact, spekulativen Feminismus, soin de ficelle, bis jetzt (so far). Die Tentakulären verbinden und entbinden sich; sie machen Schnitte und Knoten; sie machen Unterschiede; sie weben Pfade und Konsequenzen, aber keine Determinismen; sie sind gleichzeitig offen und verknüpft, auf die eine Art und Weise, und nicht auf die andere. SF ist Geschichtenerzählen und Faktenerzählen; es ist das Muster möglicher Welten und Zeiten, materiell-semiotischer Welten, vergangener, gegenwärtiger und kommender Welten. Ich verwende string figures als eine theoretische Trope, als eine Art und Weise, Denken-mit als sympoietisches Verheddern, Verfilzen, Verwirren, Nachspüren und Sortieren mit zahlreichen GefährtInnen zu betreiben. Ich arbeite mit und in SF als materiell-semiotischer Kompostierung, als Theorie in Schlamm und Durcheinander (muddle).“ (49)

Das SF-Modell ist ein offenes, weil nicht abgeschlossenes Modell („so far“), das für viele unterschiedliche Begriffe steht. Diese Begriffe sind jedoch durch das gemeinsame Akronym „SF“ miteinander verknüpft. Bei der Ausführung ihres Modells „spielt“ gewissermassen Haraway selbst mit den eingeführten Begriffen und ihren Beziehungen zueinander. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass sie unterschiedliche Arten von fortgesetzten Metaphern miteinander kombiniert. Dadurch entsteht eine Unsicherheit darüber, was wörtlich, was metaphorisch zu lesen ist. Umgekehrt gewinnt Haraways Text genau durch das Spiel mit Begriffen, die im Text immer wieder minimalen Verschiebungen unterzogen werden, eine kreative Komponente, die den Text in die Nähe einer künstlerischen Erzählung rücken lässt und somit die künstlich hergestellte Grenze zwischen Theorie und Kunst infrage stellt. Somit hebt der Text auch hervor, wie eine vielschichtige und nicht erstarrende Begrifflichkeit die Theorie bereichern kann.

 

Das sympoietische SF-Modell

Thimothée Melly: Haraway suggeriert, dass die Biologie und die Philosophie heutzutage die Vorstellung „unabhängige[r] Organismen plus Umwelten, soll heissen: eine Grundkonzeption von interagierenden Einheiten plus Kontext/Regeln“ (51) nicht mehr vertreten. Ausgehend von dieser Erkenntnis – und dies scheint darauf hinzuweisen, dass sie Wissenschaften nicht als blosse Wissensdiskurse versteht – wendet sie sich dem Begriff „sympoietisch“ zu, um die „Erde des weiterbestehenden Chthuluzäns“ (50) zu bezeichnen. Dabei unterscheidet sie zwischen „Sympoiesis“ und „Autopoiesis“ und greift auf Dempsters Definitionsvorschläge zurück. Im Gegenteil zu autopoietischen Systemen produzieren sich sympoietische Systeme im Kollektiv, sind zeitlich und räumlich unbegrenzt, nicht zentral kontrolliert, „evolutionär“ (Dempsters Wort) und können sich unvorhersehbar verändern (vgl. 51).

Die sympoietische Eigenschaft lässt sich mit dem SF-Modell gut verknüpfen. Dieses Modell lässt sich mit seinen tentakulären Akteuren, die nicht als eine Summe von sich gegenseitig ausschliessenden „Einheiten“ gedacht sind, als ein kollektives Modell denken, das sich durch die „partnerschaftlich[e]“ (50) Kollaboration zwischen Tentakulären verändert. Dieses Modell hat kein Zentrum und setzt keine im Vorhinein schon festgesetzte Einheiten voraus. Somit hat es weniger die Tendenz, Hierarchien und feste Kategorisierungen herzustellen: Tentakularität handelt vom Leben entlang von Linien – einem so grossen Reichtum von Linien – nicht vom Leben an Punkten oder Sphären […] Generationen ähneln verschlungenen Pfaden. Alles Fadenspiele.“ (50)

 

Bibliographie

Donna Haraway, „Tentakulär denken. Anthropozän, Kapitalozän, Chthuluzän“, in: diess., Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfuhrt am Main 2018, 47-84.

 

[1] Dieser Beitrag setzt sich mit dem zweiten Kapitel aus Donna Haraways Buch Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene (2016) auseinander. Donna Haraway ist emeritierte Professorin der Departements für feministische Studien und Bewusstseinsgeschichte an der University of California, Santa Cruz (USA).