Im APPENDIX (2010), der als Ergänzung zum Film ŚWIEŻE WIŚNIE entstand, spricht die Schauspielerin Klara Bielawka darüber, welche Wirkung das ehemalige Lager in Falstad auf sie hat: «Ich bin zum ersten Mal in einem Konzentrationslager, aber das macht keinen Eindruck auf mich.» Was sich einst an diesem Ort ereignet hat, ist für Klara nicht erfahrbar, die Wirkung des Ortes beziehungsweise seiner Geschichte auf den Körper scheitert. Der Ort Falstad ist ein Ort – hier beziehe ich mich auf die Definition von Aleida Assman[1] –, an dem menschliche Schicksale, Erfahrungen und Erinnerungen haften, ein Ort also, dessen Geschichte mithilfe von Denkmälern auf ihn projiziert ist.[2] Das Wissen, das an diesem Ort durch ein Museum und Archiv festgehalten wird, ist folgendes: Das Hauptgebäude von Falstad wurde 1921 als Resozialisierungsanstalt für straffällige Jugendliche gebaut. Die Anlage wurde ab 1941 als SS-Strafgefangenenlager genutzt. Unter anderem diente sie auch als Transitlager für politische Gefangene, die später nach Auschwitz-Birkenau transportiert wurden. Ab 1942 wurden Zwangsarbeiter aus Osteuropa interniert und eine Frauenabteilung eingerichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren von 1945 bis 1949 norwegische Kollaborateure, also ehemalige NS-Mitglieder und Frontkämpfer inhaftiert. Seit 1995 befinden sich an dem Ort das Archiv Falstadsenteret beziehungsweise das Falstad-Zentrum, Erinnerungsstätte und Zentrum für Menschenrechte.[3] Seit 2009 werden dort auch zeitgenössische Kunstprojekte im Rahmen des Projektes Falstad Kunst ausgestellt, die sich mit der Aufarbeitung von Geschichte auseinandersetzen.[4]
«Using women’s bodies as a ‹battle-field›»
Das Archiv Falstadsenteret ist Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung von Anna Baumgart mit dem Thema Prostitution im Zweiten Weltkrieg. Der norwegische Künstler und Kurator Per Formo lud sie 2009 zum Projekt Falstad Kunst 2010 ein. Als Folge ihrer Recherchen entstand ŚWIEŻE WIŚNIE wie auch dessen Ergänzung APPENDIX (2010)[5], später dann ein zweiteiliger Film mit dem Titel PKF 1947 (2013).[6] Der Titel von ŚWIEŻE WIŚNIE (Frische Kirschen) sei einem Tango der Vorkriegszeit entlehnt und erinnere, so schreibt Iwona Kurz in ihrem Text über das Werk von Anna Baumgart, «an das Leiden von Frauen, die zu verschiedenen Arten von Prostitution gezwungen wurden»[7]. Die Archivrecherchen zu diesem Thema in Falstad blieben allerdings ohne Ergebnis. Anna Baumgart konnte keine Dokumente, Akten oder Aussagen von ehemals inhaftierten Frauen finden, die ihre Vermutung bestätigten, dass auch in Falstad weibliche Gefangene zur Prostitution gezwungen wurden.[8] Die Archivarin Ingeborg Hjorth bestätigte zwar in einer E-Mail-Korrespondenz – diese wird im APPENDIX in Ausschnitten eingeblendet –, dass es Aufzeichnungen gebe, die sexuelle Kontakte zwischen deutschen Wärtern und weiblichen Gefangenen belegen. Die Frauen seien teilweise aufgrund ihrer Tätigkeit als Prostituierte ins Lager gekommen, ein «Puff» hätte es in Falstad aber nicht gegeben.[9] Dadurch, dass im Archiv die Zeugnisse fehlen, entsteht eine Leerstelle, das originale Ereignis ist nicht vorhanden. Um dieses ‹nicht vorhandene› Ereignis dennoch durch künstlerische Praxis mittels Wiederholung ‹wieder-holen› zu können, konstruiert Anna Baumgart die flüchtige oder zum Teil nicht vorhandene Erinnerung an die Vergangenheit mit verschiedenen Strategien:[10]
- Sie inszeniert ŚWIEŻE WIŚNIE einerseits als Reportage von einem fiktiven Filmprojekt.
- Sie nutzt Archivmaterial beziehungsweise found footage als dokumentarisches Mittel.
- Die Schauspielerin Klara tritt als Repräsentantin der Frauen auf, die sexuelle Gewalt im zweiten Weltkrieg erfahren haben.
- Im Appendix ist die Künstlerin selbst als Person zu sehen, die zum Thema der sexuellen Gewalt gegenüber Opfern, die nie die Chancen hatten, mit ihrer eigenen Stimme darüber zu sprechen, recherchiert.
- Die Historikerin Joanna Ostrowska berichtet von ihrer Forschungsarbeit und verweist auf die Unterdrückung der weiblichen Opfer sowie die Stigmatisierung im Diskurs des zweiten Weltkrieges. [11]
- Die Archivarin Ingeborg Hjorth tritt als Unterstützerin und Gedächtniswärterin. [12]
Anna Baumgart verbindet durch diese Art der Rekonstruktion Fiktion und Realität miteinander und beleuchtet dadurch das Verhältnis von Dokument und Ereignis neu. Als Quellen werden im Film Berichte, die in der Publikation Zwangsprostitution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus [13] von Christa Paul abgedruckt sind, sowie Erzählungen von betroffenen Frauen hinzugezogen, die Historikerin Joanna Ostrowska während der Recherche für ihre Dissertation «Alien victim – figure of a camp prostitute and her repression in the post-holocaust discourse» an der Jagiellonian University in Krakau befragt hat.[14] Die Zeuginnen Frau W. und Barbara werden im Abspann[15] namentlich genannt, im Film sind sie allerdings weder im Bild sichtbar noch ihre Aussagen hörbar. Stattdessen wiederholt Schauspielerin Klara die Berichte. Anna Baumgart erklärte in der Dokumentation des Projekts: «The actress lends her face and body to all of the characters in my film: Mrs Barbara, Frau W, a woman who ‹collaborated through her body› and as punishment had her head shaved.»[16] Dadurch, dass Klara im Film zusätzlich die Rolle der Schauspielerin in dem fiktiven Filmprojekt des Regisseurs Marcin Koszałka übernimmt, wird gerade durch die Mehrdeutigkeit ihrer Besetzung als Schauspielerin die Frage aufgeworfen, was in ŚWIEŻE WIŚNIE nun eigentlich reenacted, und was gespielt beziehungsweise was rekonstruiert und was fiktiv konstruiert ist. Für die Quellen, Zeugnisse und Dokumente, die Anna Baumgart im Film als Grundlage heranzog, um sich dem möglichen ‹Ereignis› in Falstad anzunähern, bedeutet das, dass sie ihre eigentliche Funktion – diejenige, eine authentische Version des ‹Ereignisses› zu dokumentieren – nicht erfüllen. Der konventionellen dokumentarischen Aussage ist nicht zu trauen[17], sie versagt ebenso, wie Joanna Ostrowska im APPENDIX in der Darlegung der zentralen Thesen ihrer Forschungsarbeit im Vorlesungsraum scheitert. Sichtbar wird dieses Scheitern der Historikerin im Moment, als im Vorlesungsraum die Frage gestellt wird, warum Joanna Ostrowska die Geschichte der Zwangsprostituierten und die Geschichte der weiblichen politischen Gefangenen als gleich wichtig betrachte. Der Moment zeigt die Schwierigkeiten auf, mit denen die Joanna Ostrowska in ihrer Forschungsarbeit zu dem in der Geschichtswissenschaft tabuisierten Thema von Sexualität und Prostitution im Zweiten Weltkrieg konfrontiert ist. Anna Baumgart setzt in ŚWIEŻE WIŚNIE damit einen Kontrast zum historischen Narrativ: «Theoretisch geht es um das Erinnern von Vergangenem, im Grunde aber um höchst aktuelle Fragen nach Identität und politischer Macht», bemerkt Iwona Kunz. Anna Baumgart konkretisierte diese Aussage in der Publikation falstadsenterets skriftserie #6: «The anti-hero of my project speaks in accordance with Benjamin’s principle of giving voice to the ‹silent victims›, to those whose voices were taken away from them by the established winners, the established authorities and sometimes even the established historians.»[18]
Das Infragestellen des Verhältnisses von Dokument und Ereignis wird über den Körper der Schauspielerin verhandelt, der somit zum Ort wird, an dem der gegenwärtige historische Diskurs zum Thema erörtert wird. Oder wie Anna Baumgart in der Publikation zum Projekt Falstad Kunst schreibt: «The film is also about using women’s bodies as a ‹battle-field›, a form of abuse that is repeated even in conflicts of today.»[19] Den Körper der Schauspielerin als «Schlachtfeld», also als ein Ort, an dem Geschichte ausgehandelt wird, zu betrachten, ist in ŚWIEŻE WIŚNIE auf mehreren Ebenen spannend. Durch die Abwesenheit von Zeugnissen und der Frage von Anna Baumgart nach den nicht vorhandenen Zeugen sowie deren Status entfaltet sich eine Wirkung, die performativen Charakter hat. Der unmittelbar präsente Körper der Schauspielerin kann als Medium begriffen werden, das Geschichte durch fragmentarische Affekte, Emotionen und Gesten wie auch durch die Inszenierung vermittelt.[20] Rebecca Schneider beschreibt diese Wirkung als «body-to body-transmission»[21]. Sie schreibt: «The body becomes a kind of archive and host to a collective memory that might situate with Freud as symptomatic, with Cathy Caruth with Freud as the compulsory repetitions of a collective trauma, with Foucault with Nietzsche as ‹counter-memory› or with Fred Moten with Baraka, Minh-ha and Derrida as transmutation.»[22] Damit definiert sie den Körper als Gegen-Archiv oder Gegen-Gedächtnis, das eine neue Narration der Vergangenheit ermöglicht und eine Gegenöffentlichkeit zum vorherrschenden Narrativ schafft. Denn die Logik des Archivs, das auf der Grundlage des Gegensatzes von Aufbewahrung, Dokumentation und Speicherung einerseits und Flüchtigkeit, Ereignishaftigkeit und Unwiederbringlichkeit operiert, besteht nicht länger.[23] «Reenactments provozieren», so schreibt auch Nina Tecklenburg in Bezug auf Rebecca Schneider, «eine alternative Logik, innerhalb derer Ereignisse selbst als Aufbewahrungsform sowie umgekehrt das Archivieren und Wiederholen selbst als ein Ereignis erscheinen.»[24] Iwona Kunz argumentiert in Bezug auf Anna Baumgarts Film ebenfalls, dass das Gedächtnis nicht nur das sei, was wiederkehrt:
«Gedächtnis ist wiederholte Ausführung, mehr Konstruktion als Rekonstruktion, und in diesem Sinne ein doppeltes Phantom. Die Künstlerin tritt nicht als Historikerin oder Archivarin auf (sie gerät mit diesen Rollen oder ihren Vertretern mitunter sogar in Konflikt), vielmehr wird sie zu einer mnemon, einer Person, die im Namen der Gemeinschaft Verantwortung für die Erinnerung an die Vergangenheit übernimmt, die von der Vergangenheit erzählt, insbesondere im Namen der Ausgeschlossenen, z.b. der Frauen, indem sie zugunsten der Realität eine mehrdimensionale, zusammenhangslose Fiktion konstruiert.» [25]
Wenn der Körper der Schauspielerin als Archiv gedacht wird, wofür kann der Körper der Schauspielerin in ŚWIEŻE WIŚNIE dann Zeugnis ablegen? Und was wird wiederholt, wenn dieses Gegen-Gedächtnis «almost in a sense of an echo»[26] funktioniert, wie Rebecca Schneider in «Performing Remains» schreibt?
Das nackte Leben – Körper und Zeugenschaft
ŚWIEŻE WIŚNIE beginnt mit der Dokumentation eines inszeniertes Telefongesprächs zwischen der Schauspielerin Klara und dem dänischen Regisseur Lars von Trier. In weiteren Sequenzen mit dem Kameramann Marcin Koszałka wird die Idee besprochen, ein «besseres» Auschwitz-Konzentrationslager in der Nähe von Kopenhagen nachzubauen. Im Gegensatz zum realen Schauplatz in Falstad (an dem die Reportage zum fiktiven Filmprojekt gedreht wird), steht die Bühne des Dramaticzny Theater in Warschau (die an die Szenographie von Lars von Triers Film DOGVILLE erinnert). Sie erfüllt im Film ŚWIEŻE WIŚNIE zwei Funktionen: Zum einen ist es der Ort, an dem die Schauspielerin Klara von sexueller Zwangsarbeit im zweiten Weltkrieg erzählt, beziehungsweise in der Rolle der Frauen Zeugnis ablegt. Zum anderen wird auf der Bühne eine Aufstellung nach Hellinger inszeniert und vom Kameramann Marcin Koszałka aufgezeichnet. Durch die Aufstellung nach Bert Hellinger sollen Beziehungen aufgezeigt werden. Dazu werden die Körper räumlich angeordnet. Schauspielerin Klara wird von Anna Baumgart dabei die Rolle aller Frauen, die sexuelle Gewalt im zweiten Weltkrieg erfahren haben, zugewiesen. Doch sie scheitert, kann mit der ihr zugewiesenen Rolle nicht verschmelzen. Iwona Kurz schreibt dazu:
«Mit Bert Hellingers an sich schon umstrittener Methode soll hier eine Leerstelle bearbeitet werden. Hellinger propagierte die Familienaufstellung bei der ein ‹Wissensfeld› entstehe, das auch die Empfindungen nicht anwesender Personen greifbar mache. Auf die Geschichte von vergewaltigten Menschen oder von Zwangsprostituierten ist dieser Mechanismus nicht anwendbar, da sie weder an der Aufstellung beteiligt sind noch jemand der Beteiligten familiär mit ihnen verbunden wäre. Und doch unternimmt Baumgart im Film diesen Versuch.» [27]
In Bezug auf Strategien des Reenactments und der Zeugenschaft eröffnet gerade die Tatsache, dass Klara als Stellvertreterin der betroffenen Frauen gleich auf mehreren Ebenen scheitert, eine neue Perspektive. Nach Aleida Assmann ist «der Körper des Gefolterten und Traumatisierten der bleibende Schauplatz der verbrecherischen Gewalt und damit zugleich das ‹Gedächtnis› dieser Zeugen.» [28] Klara hat also die Aufgabe, die Erfahrung der betroffenen Frauen nachzuspielen beziehungsweise nachzuleben. Auf der visuellen Ebene konstruiert Anna Baumgart das Nachleben durch die Montage. In found footage-Szenen zu Beginn des Films werden Frauen die Haare abgeschnitten. Dazwischen ist eine Szene in der Maske eingefügt, in der Klaras Haare frisiert werden. Dadurch erscheint es, als ob Klaras Haare ebenfalls abgeschnitten werden. In der Hellinger-Aufstellung trägt sie dann eine Kappe. Somit wird hier ein Bild konstruiert, dem die Realität aber nicht entspricht. Die sexualisierte Gewalt (Entfernen der Kopfhaare) in den found footage-Szenen, wurde an der Schauspielerin nicht wiederholt, durch die Montage wird aber eine Wiederholung inszeniert, die körperliche Erfahrung bleibt für die Schauspielerin eine Leerstelle. Und obwohl Klara zwar Aussagen von Zeugen selektiv nachspricht, bietet ihr das Schauspiel in der Hellinger-Aufstellung kein Mittel, die Rolle der Zeugin einzunehmen, beziehungsweise die betroffenen Frauen authentisch zu verkörpern. Sie scheint nicht zu wissen, wie sie innerhalb dieser räumlichen Anordnung der Körper in der Hellinger-Aufstellung reagieren soll – oder diese Orientierungslosigkeit ist von Anna Baumgart gezielt inszeniert. Klara ist ausgestellt, ihre Gesten und Emotionen versagen, das von ihr geforderte «Nachleben» kann sie nicht umsetzen. Mit der Theorie von Giorgio Agamben lässt sich argumentieren, dass hier in der Art und Weise, wie der Körper im Raum positioniert ist, das «nackte Leben» dargestellt ist. Der Mensch ist dabei aus dem Recht ausgeschlossen, wird von der «souveränen Macht» auf einen Rest reduziert. Der Theaterraum, in dem Anna Baumgart die Hellinger-Aufstellung anordnet, kann mit dem von Giorgio Agamben beschriebenen Ausnahmezustand verglichen werden, in dem das nackte Leben «zugleich von der Ordnung ausgeschlossen und von ihr erfasst wurde»[29]. Gerade in seiner Abgetrenntheit schafft der Ausnahmezustand einen rechtsfreien Raum, eine Situation, in der die Ordnung aufgehoben ist. [30] Als Beispiel für diesen Ausnahmezustand führt Giorgio Agamben das Lager an, dessen Wesen er folgendermassen definiert:
«Wenn das Wesen des Lagers in der Materialisierung des Ausnahmezustandes besteht und in der daraus erfolgenden Schaffung eines Raumes, in dem das nackte Leben und die Norm in einen Schwellenraum der Ununterschiedenheit treten, dann müssen wir annehmen, dass jedesmal, wenn eine solche Struktur geschaffen wird, wir uns virtuell in der Gegenwart eines Lagers befinden, unabhängig von der Art der Verbrechen, die da verübt werden, und wie immer es auch genannt und topographisch gestaltet sei.» [31]
Wenn nun also der Theaterraum in ŚWIEŻE WIŚNIE einen Ausnahmezustand abbildet oder gar den Zustand des Lagerraums wiederholt, welche Machtstrukturen zeigen sich bei der Hellinger-Aufstellung? Klara steht als professionelle Schauspielerin der Hellinger-Therapeutin sowie drei Laien-Performerin gegenüber. Gefilmt werden sie von einem Mann. Anna Baumgart zeigt dabei auch einen Irritationsmoment: Der Kameramann übt seinen Beruf aus, versteht allerdings nicht, was in dieser Szene geschieht. Er repräsentiert, wie die Hellinger-Therapeutin sagt, den «männlichen Blick» auf die Geschichte. Er wird in die Hellinger-Aufstellung miteinbezogen, setzt sich und beschreibt, was er empfindet. Die Therapeutin stellt dabei fest, dass er seinen Blick nicht auf die Situation richtet, er sieht weg und ist somit nicht involviert. Im Gegensatz zu seinem Umgang mit der Situation, fühlt sich Klara nicht besonders wohl in dieser Anordnung. Sie scheint in der Hellinger-Anordnung von der Gemeinschaft der Frauen ausgeschlossen zu sein. Wenn Klara in dieser Situation allerdings zum sogenannten Muselmann (der von der Gemeinschaft ausgeschlossene) wird, der das nackte Leben im Konzentrationslager verkörpert, kann sie allerdings nur die «Unmöglichkeit, zu erkennen und zu sehen»[32] begreifen. Als Muselmann – der «vollständiger Zeuge»[33], der im Lager «den tiefsten Punkt des Abgrunds berührt hat», also zum Nicht-Mensch geworden ist, wie Giorgio Agamben ausführt – hat Klara nichts gesehen und nichts erkannt.[34] Für sie ist die Möglichkeit aufgehoben, zwischen Mensch und Nicht-Mensch zu unterscheiden. [35] Als Frau, die keine sexuelle Gewalt erfahren hat, kann sie ebenfalls nichts bezeugen. Aus logischen Gründen sei das Zeugnis der Überlebenden immer ein unvollständiges Zeugnis, weil sie überlebt haben, folgert Giorgio Agamben in «Was von Ausschwitz bleibt». Für den italienischen Philosophen heisst dies, dass die Überlebenden ein Zeugnis bezeugen, das fehlt. Wovon die Überlebenden mit ihren unvollständigen Zeugnissen also eigentlich Zeugnis ablegen, ist die Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen. [36] Das Zeugnis im Zustand des «nackten Lebens» und auch die Wiederholung des Zeugnis-Ablegen als Schauspielerin scheitert.
Das Scheitern als Dissens in der Geschichtsschreibung
Das Scheitern ist bei Anna Baumgart Konzept. Wie bereits aufgezeigt, ist die Rekonstruktion von Geschichte nicht möglich, weil erstens das ‹originale Ereignis› nicht vorhanden ist. Zweitens stehen die noch lebenden Zeuginnen nicht vor der Kamera, sondern ihre Zeugenaussagen werden von der Schauspielerin Klara wiederholt. Durch die Montage des Films werden diese Aussagen aber sogleich wieder in Frage gestellt – die Authentizitätsstrategie geht wie bereits ausgeführt nicht auf. ŚWIEŻE WIŚNIE bedient sich zwar der Strategie des Reenactments, die sich – wie Inke Arns in Bezug auf andere künstlerische Arbeiten ausführt – an folgender Idee orientiert:
«den Kontakt zu einer Geschichte (wieder-)herzustellen, die zunehmend auf medialen Bildern beruht. Das Kurzschliessen der Gegenwart mit der Vergangenheit ermöglicht eine Erfahrung der Vergangenheit in der Gegenwart. In dem sie die sichere Distanz zwischen abstrakten Wissen und persönlicher Erfahrung, zwischen dem Damals und Heute, zwischen dem anderen und Selbst löschen, ermöglichen sie eine persönliche Erfahrung abstrakter Geschichte.»[37]
Aber gerade die persönliche Erfahrung der Vergangenheit in der Gegenwart funktioniert in ŚWIEŻE WIŚNIE nicht. Die Schauspielerin Klara, die sich durch ihre Rolle mit dem Thema auseinandergesetzt hat, sagt am Ort des eigentlichen Geschehens, dem ehemaligen Konzentrationslager Falstad, dass der Ort keinen Eindruck auf sie macht. Die Hellinger-Aufstellung soll einen Raum konstruieren, in dem Vergangenheit und Gegenwart zusammenfallen, einen Raum, an dem die Erfahrung von sexueller und sexualisierter Gewalt noch präsent ist und dadurch auch durch den Körper der Schauspielerin darstellbar werden soll. Doch wie bereits mit Iwona Kunz Untersuchung ausgeführt wurde, geht dieser Mechanismus nicht auf. Und auch die Machart des Films lässt offen, inwiefern es sich hierbei um eine Reportage zu einem Film, der in einem «besseren Auschwitz» spielen soll, handelt. Der APPENDIX hätte die Funktion eines Para-Text, also eines Kommentars zum Film, in dem die Zuschauerinnen und Zuschauer mehr Informationen erhalten sollten. Doch auch diese Meta-Ebene scheitert, zumindest im Hinblick auf den etablierten Geschichtsdiskurs, in dem über das Thema der Erfahrung sexueller Gewalt nicht gesprochen werden kann. Dies wird in ŚWIEŹE WIŚNIE beispielsweise sichtbar, wenn die Hellinger-Therapeutin der Künstlerin Anna Baumgart im APPENDIX erklärt, auf welchen Ebenen sie sich als Künstlerin dem Thema annähern kann.
Die Künstlerin Anna Baumgart beruft sich in der Email-Konservation mit Archivarin Ingeborg Hjorth auf Jaques Rancières Idee der Aufteilung des Sinnlichen. In der Publikation definiert der französische Denker diese Idee wie folgt: «Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann.»[38] Dabei ist es die Politik, die festlegt, «was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaft der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.»[39] Jacques Rancière stellt die Frage nach der Möglichkeit von Repräsentation. Für ihn sind – wie Maria Muhle in der Einleitung zu «Die Aufteilung des Sinnlichen» schreibt:
«Kunst und Politik keine feststehenden und voneinander getrennten Wirklichkeiten, sondern zwei Formen der ‹Aufteilung des Sinnlichen›, die von einem spezifischen Regime der Identifizierung abhängen. […] Kunst und Politik werden als verschiedene Formen der Präsenz singulärer Körper in spezifischen Räumen und Zeiten verstanden.»[40]
Das Regime möglicher Erfahrung und Verständlichkeit ist dabei historisch bedingt. Jacques Rancière geht es darum zu zeigen, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik «auf der Ebene der sinnlichen Aufteilung des Gemeinsamen der Gemeinschaft, ihren Formen der Sichtbarkeit und ihres Aufbaus»[41], anzusiedeln ist. Weiter schreibt er:
«Die Künste leihen den Unternehmungen der Herrschaft oder der Emanzipation immer nur das, was sie ihnen leihen können, also das, was sie mit ihnen gemeinsam haben: Positionen und Bewegungen von Körpern, Funktionen des Wortes, Verteilung des Sichtbaren und Unsichtbaren.» [42]
Was sagt nun das Scheitern des Films von Anna Baumgart in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Dokument und Ereignis beziehungsweise über die Repräsentation von Geschichte aus? In Bezug auf die Strategien des Reenactments könnte man mit Inke Arns argumentieren, dass:
«Reenactments stellen jedoch auch die Frage danach, was jenseits der medial repräsentierten Geschichte wirklich passiert ist – paradoxerweise geschieht dies über die Wiederholung der Repräsentation von Geschichte (deren ausschliessliche mediale Verfasstheit damit betont wird). Ausserdem befragen Reenactments das Vergangene nach seiner Relevanz für die Gegenwart. Im performativen Akt des Wiederholens werden Differenz und Wiederholung (Gilles Deleuze) zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem deutlich. Im Unterschied zum Begriff Simulakrum, die, ähnlich der Science Fiction, eine Annahme in die Zukunft extrapoliert (= Potentialität), beziehen sich Reenactments immer auf in der Vergangenheit liegende, konkrete Ereignisse (=Aktualität). Und während eine Simulation (meist) im Virtuellen verbleibt, impliziert ein Reenactment notwendigerweise eine Umsetzung in einen realen Raum mit echten Körpern.»[43]
Wenn nun also das Reenactment beziehungsweise der Film scheitert, scheitert auch die Repräsentation. Gerade in Bezug auf das undarstellbare, nicht vorhandene Ereignis ermöglicht die Kunst durch das Scheitern daher einen neuen Zugang zur Geschichtsvermittlung. Jacques Rancière schreibt in «Politik der Bilder»:
«Das Versagen des festen Zusammenhangs zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen kann als Unbegrenztheit des Vermögens der Repräsentation aufgefasst werden. Um dieses Versagen im Sinne des Undarstellbaren zu interpretieren und einige Ereignisse als undarstellbar zu bezeichnen, muss eine doppelte Subreption erfolgen, die erste im Hinblick auf das Konzept des Ereignisses und die zweite im Hinblick auf das Konzept der Kunst.»[44]
Das Undarstellbare existiert nach Jacques Rancière somit in Abhängigkeit von den Bedingungen, denen ein Gegenstand der Repräsentation sich unterwerfen muss, um in ein bestimmtes Regime der Kunst, in ein spezifisches Regime der Beziehungen zwischen Zeigen und Bedeuten zu gelangen. [45] In «Der emanzipierte Zuschauer» stellt Jacques Rancière die These auf, dass Emanzipation dann beginne:
«wenn man den Gegensatz zwischen Sehen und Handeln in Frage stellt, wenn man versteht, dass die Offensichtlichkeiten, die in dieser Weise die Verhältnisse zwischen dem Sagen, dem Sehen und dem Machen strukturieren, selbst der Struktur der Herrschaft und der Unterwerfung angehören.»[46]
Indem Anna Baumgart aufzeigt, wie eine Geschichte aus einem weiblichen Blick beziehungsweise aus der Perspektive der «silent victims» an der Repräsentation des etablierten Geschichtsdiskurses scheitert, macht sie die Strukturen der Herrschaft und Unterwerfung sichtbar. Sie eröffnet zudem einen Dissens, der sich mit Jacques Rancières verstehen lässt als:
«eine Ordnung des Sinnlichen, in der es weder eine unter den Erscheinungen verdeckte Wirklichkeit gibt noch eine einzige Ordnung der Darstellung und der Interpretation des Gegebenen, die jedem ihre Offensichtlichkeit aufzwingt. Denn jede Situation kann in ihrem Inneren gespalten werden und unter einer anderen Wahrnehmungs- und Bedeutungsanordnung neu gestaltet werden. Der Dissens stellt ebenso die Offensichtlichkeit dessen in Frage, was wahrgenommen wird, denkbar und machbar ist, wie die Aufteilung derer, die fähig sind zu erkennen, zu denken, und die Koordinaten der gemeinsamen Welt zu verändern.» [47]
Gerade durch diesen Dissens gelingt es Anna Baumgart, die Einheit des Gegebenen und die Offensichtlichkeit des Sichtbaren zu spalten und eine Neuordnung der Aufteilung des Raumes und der Zeit vorzunehmen. Diese Neuaufteilung hat wiederum Auswirkungen auf die Möglichkeiten des Subjekts innerhalb dieser spezifischen Räume und Zeiten. In ŚWIEŻE WIŚNIE kann Klara als Schauspielerin zwar kein Zeugnis ablegen, ihr Körper wird aber zum Ort der Wiederholung, indem an ihm aufgezeigt wird, welchen Machtstrukturen der Geschichtsdiskurs unterworfen ist und weshalb «silent victims» darin keine Möglichkeit finden, Zeugnis abzulegen.
QUELLEN:
falstadsenterets skriftserie #6, http://falstadsenteret.no/wp-content/uploads/skriftserie_06.pdf
Video Frische Kirschen (2010): http://artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/baumgart-anna-swieze-wisnie
Video Frische Kirschen, Appendix (2010): http://artmuseum.pl/en/filmoteka/praca/baumgart-anna-swieze-wisnie-appendix