Am Himmel zieht ein Flugzeug vorbei. Im nächsten Moment werden Aufnahmen eines Dorfes und eines Ackerfeldes eingeblendet. Darauf folgen Bilder eines zerstörten Hauses. Jemand ruft: «The plane is coming! The Antonov! It’s here!» Dann rennen mehrere Menschen weg, hin zu einem Erdloch, in dem sie sich vor dem Angriff des Flugzeuges verstecken. Sekundenbruchteile später folgt eine Explosion, das Bild verwackelt, die Kamera scheint auf den Boden zu fallen.
Die Anfangssequenz von Beats Of The Antonov hält fest, wie eine der Antonovs, die russischen «Frachtflugzeuge» der sudanesischen Regierung, Bomben über den Dörfern in den Nuba-Bergen und den Flüchtlingslagern in der Region des Blauen Nils[1] abwirft. Die Flugzeuge bringen den Krieg in die beiden südlichen Regionen des Sudans.[2] Obwohl sich die Bombardements eigentlich gegen die Rebellengruppen der Sudan People’s Liberation Army (SPLA) richten, werden oft Zivilist*innen getroffen, wenn es ihnen nicht gelingt, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Beats Of The Antonov fängt die Zerstörung durch die Luftangriffe in Bildern ein. Doch die Situation scheint die Menschen nicht grundsätzlich zu zermürben: In der darauffolgenden Szene sind Kinder zu sehen, die lachend aus ihrem Versteck hervorkriechen. Das Lachen sei immer da, kommentiert eine Person aus dem Off die Szenen: Die Menschen würden lachen, weil sie bei den Angriffen nicht verletzt wurden.[3]
Musikmachen als Überlebensstrategie
Dieses Lachen stellt einen Bruch mit der bedeutungsgeladenen Atmosphäre dar, die der sudanesische Regisseur Hajooj Kuka in der Anfangssequenz seines Films erzeugte. Auf die Szene mit den lachenden Kindern folgen Bilder, welche Menschen beim Singen, Tanzen und gemeinsamen Musikmachen mit selbstgebauten Instrumenten zeigen. Dieses Zusammenkommen und gemeinsame Feiern ist die Art und Weise, wie die Menschen auf den Krieg reagieren, den die sudanesische Regierung gegen sie führt. Es ist Teil ihrer Überlebensstrategie: «The plane often attacks at night», erklärt ein Off-Erzähler und ruft die Zerstörung in Erinnerung. Parallel werden im Film Bilder von niedergebrannten Häusern gezeigt. Der Erzähler kommentiert weiter:
«A group of youth stay up watching all night until the plane comes, bombs and leaves. If a plane attacks while people are sleeping, it will be devastating. So these young play the Rababa (string instrument) and dance until the plane comes.»[4]
Es sind aber nicht nur die jungen Menschen, die nachts über die schlafenden Mitglieder der Gemeinschaft wachen, die sich die Zeit mit Musikmachen vertreiben. Die Musik ist allgegenwärtig: Vor allem in den Flüchtlingscamps in der Region des Blauen Nils sind musikalische Traditionen sehr präsent. So sieht man beispielsweise, wie der sudanesische Musiker Jodah Bujud eine Rababa baut. In einer darauf folgenden Interviewsequenz bemerkt er, dass dieses traditionelle Lauteninstrument in den Camps öfters gespielt werde als «zuhause». Dadurch, dass die Menschen ihre Instrumente selbst bauen und beim gemeinsamen Musikmachen oftmals improvisieren, entsteht eine Form der Musik, die zwar als noch als traditionell sudanesische erkennbar ist, die «alten» Songs haben jedoch in Kombination mit neuen Elementen einen neuen, eigenen Klang erhalten. Zudem haben die Menschen die Lyrics angepasst. Sie singen über eigene Erfahrungen, über das, was sie während des andauernden Konfliktes erleben.[5] Durch die Musik, so erklärt es der Musiker Jodah Bujud in Beats of the Antonov, können die Menschen ihre Sorgen für einen Moment vergessen: «They enter a state of happiness.»[6] Eine «Happiness», die sich auf alle anwesenden Personen überträgt.
Hajooj Kuka hatte dieses Zelebrieren des Lebens und den Zustand der «Happiness», die er bei seinen Reisen in die Regionen des Blauen Nils und der Nuba-Berge nach der Abspaltung des Südsudans am 9. Januar 2011 vorfand, nicht erwartet. Der sudanesische Filmemacher reiste unter anderem auch in diese Regionen, um Freund*innen in den Flüchtlingscamps zu besuchen.[7]
«When I went there I was surprised by the music, the dance, the celebration of life, the happiness that I didn’t expect to exist in a refugee camp. I can hear music from there and there and there’s all this music going on. And I started asking why.» [8]
Bei diesen Besuchen beobachtete er, wie Musik die vom Krieg geprägten Menschen vereinte, ihnen half, die Situation zu bewältigen und Krisenmomente durchzustehen.[9] Die Musik brachte gerade in den Flüchtlingslagern Menschen aus verschiedenen Stämmen und Regionen zusammen, die sich nicht auf eine gemeinsame Kultur oder eine gemeinsame Geschichte berufen können. Ihnen gemeinsam ist jedoch, dass sie von der sudanesischen Regierung angegriffen, unterdrückt und aus ihren Dörfern vertriebenen wurden. Durch das Musikmachen erlebten sie eine besondere und spontane Form von Gemeinschaftlichkeit. Diese hat Hajooj Kuka in Beats of the Antonov nicht nur mit der Kamera eingefangen, sondern die Szenen mittels zahlreicher Interviews in einen grösseren Kontext gestellt: Er lässt die Menschen ihre persönliche Perspektive auf den Konflikt erzählen – in ihrer eigenen Sprache. Dabei kommen neben Musiker*innen und Kulturveranstalter*innen viele Geflüchtete, aber auch Mitglieder der Sudan People’s Liberation Army (SPLA) zu Wort. Sie alle beschreiben, wie sie über ihre Kultur einen Weg fanden, ihre Menschlichkeit inmitten dieses komplexen Konfliktes zu bewahren. Der Fokus der Erzählungen liegt dabei auf den Ritualen, der Musik und dem Tanz, die stark in das gemeinschaftliche Leben verwoben sind. Für die Aufnahmen verbrachte Hajooj Kuka mehr als 18 Monate in den Flüchtlingscamps im Blauen Nil sowie in den Dörfern der Nuba-Berge und wurde in dieser Zeit selbst Teil dieser Gemeinschaften.[10]
Um diese besondere Form von Gemeinschaftlichkeit zu umschreiben, ist der Begriff der spontanen Communitas von Victor Turner hilfreich. Eine Communitas ist nach dem britischen Anthropologen «eine unvermittelte Beziehung zwischen konkreten, historischen, idiosynkratischen Individuen»[11] und zeichnet sich durch ihre Spontanität und Unmittelbarkeit aus. In einer Communitas sind die Menschen gleichzeitig kollektiv als auch individuell.[12] Menschen, die in Form einer spontanen Communitas miteinander interagieren, werden «total von einem einzelnen, synchronisierten, durch ‹Fluss› (Verschmelzen von Handeln und Bewusstsein), geprägten Ereignis absorbiert.»[13]
Kämpfe um die eigene kulturelle Identität
Die besondere Form der Gemeinschaftlichkeit zeigt sich beim gemeinsamen Musikmachen auch darin, dass es keine Bühne gibt, welche die Musikmachenden von den Zuschauer*innen trennt. Für den Film besuchte Regisseur Hajooj Kuka die Gemeinschaften zusammen mit der sudanesischen Musikethnologin und Singer-Songwriterin Alsarah Mohamed. Sie weist in einem Interview in Beats of the Antonov darauf hin, dass es keinen Unterschied gebe zwischen Zuhörer*innen und Musikmachenden: «The audience is part of the musicians and the musicians are part of the audience».[14] Alle könnten sich jederzeit beteiligen, selbst Songtexte schreiben, Melodien erfinden, singen, trommeln, tanzen und auch selbst Instrumente bauen. Das Besondere sei zudem, dass jede*r seine*ihre eigene Geschichte in den Texten einbringen könne. [15] Die Menschen halten ihre eigene Individualität durch dieses gemeinschaftliche Musikmachen aufrecht – diese Charakteristika unterstreicht Victor Turner auch für die Communitas. Denn in dieser sind die Menschen eine egalitäre Gemeinschaft, bewahren aber gleichzeitig ihre individuelle Verschiedenartigkeit. Die Identität kommt sogar noch stärker zum Ausdruck als sonst.[16] Das zeigt sich im Film beispielsweise, wenn Seif Alislam, der in einem der Flüchtlingslager lebt, meint: «My identity can be read through the notes.» Viele der Erzählungen im Film Beats of the Antonov umrahmen zudem die Konflikte als Kämpfe um die eigene kulturelle Identität. So führt zum Beispiel Albaqir Elafeef von der Sudanese Civil Society den Krieg auf eine Identitätskrise der nord-sudanesischen Bevölkerung zurück:
«The Northerners have fake identities, the ones in and out of power. A fake identity is one that does not know itself and adopts an identity other that its own. The war is caused by the Northerners’ identity crisis. The war is against all the African elements in Sudan. Be it in Darfur, Nuba Mountains or Blue Nile. That is the external aspect for a war actually waged in the subconscious of Northerners against its own black element. That is manifested in our denial of our African self and our attachments to being Arabs. […] And because we have insecure, divided and fake identities, we are not living in peace with ourselves and it follows that we can’t live in peace with others.»[17]
Regisseur Hajooj Kuka macht in einem Interview auf die Vielfalt der im Sudan lebenden Ethnien aufmerksam, die sich nicht unter einer nationalen Identität fassen lassen: «Sudan has 57 different ethnicities. One of them is Arabic Islamic. Basically there is a myth of this national identity that they want to box everybody in and almost everybody doesn’t fit in it.»[18]
Musik war im Sudan schon immer Teil der Kultur, allerdings – so bemerkt Hajooj Kuka in einem Interview – war sie in Friedenszeiten nicht so präsent:
«It was one thing that they had in their culture. But when they were going through this hardship, the hardship of life, the hardship of being in a war, the hardship of being bombed, of losing family, of losing body parts, of just going through this dreadful time, they needed something. And I think that’s when they found the music. And that’s when they needed to celebrate more. So a lot of them would say how now they’re actually using music more than they used to use it in peacetime. And I think it’s out of the need, it’s the tool that they needed and they had.»[19]
Die Beschreibung, dass Musik als «Tool» dient, das die Menschen in dieser Zeit der Krise zusammenbringt und sie stärkt, ist mit Blick auf den Communitas-Begriff von Victor Turner interessant. Dies, weil das gemeinsame Musikmachen auf Momente der Liminalität – zum Beispiel nach den Bombardements – folgt, also ein sogenanntes liminales Phänomen darstellt. Die Musik bringt aber ebenfalls Momente hervor, in denen die soziale Struktur aufgehoben ist, sie stiftet also eine Communitas. Diese Communitas erscheint als ephemerer Ort – ein Ort entsteht in dem Sinne, weil die Individuen in ihrer Verschiedenartigkeit kollektiv zu einander in Beziehung treten.
Als liminales Phänomen beschreibt Victor Turner überwiegend kollektive Hervorbringungen, die zentral in den sozialen Prozess integriert sind und die Geschichte einer Gruppe reflektieren. Sie besitzen einen kollektiven Massencharakter und sind funktional für die Sozialstruktur.[20] Diese Beschreibung trifft auf das gemeinsame Musikmachen in diesen Gemeinschaften insofern zu, als dass eine neue sudanesische Musik in den Flüchtlingslagern und Dörfern entsteht und sich so auch eine neue kollektive Identität herausbildet. Die Musik ist nicht nur eine Strategie, die Gemeinschaften vor den zermürbenden Bombenangriffen der sudanesischen Regierung zu warnen und zu schützen, sie bringt zudem die Menschen in den Dörfern zusammen und lässt sie Beziehungen untereinander aufbauen, die ihre Gemeinschaft und die Solidarität in der Gemeinschaft insgesamt stärken. Die Musik dient dabei auch als kollektives Gedächtnis der im Krieg gemachten Erfahrungen.
Die affektive Communitas
Gerade weil die Musik an sich immer ephemer ist, ist sie, so beschreibt es auch die Anthropologin Edith Turner, ein sicherer Träger einer Communitas. Musik ist jeweils nur so lange präsent, wie die Schwingungen der Töne und Melodien nachhallen. Musik lässt sich ausserdem nicht in Strukturen wiederfinden, sondern existiert allein im Moment ihrer unmittelbaren «Performance»: «Its life is synonymous with communitas, which will spread to all participants and audiences when they get caught up in it.» [21] Die Musik hebt zudem, so Edith Turner, jegliche Trennung zwischen einzelnen Menschen auf: «By intimately sharing precise time, owing to the transformative power of rhythm, we can merge and we find we are not separate.» [22] Sie beschreibt dieses Verschmelzen anhand des Miteinander-Verbundenseins durch die Stimme: «In music, you join your voices completely, you are joined, you are in the same place, because you have gone altogether into the sound, and the sound is one sound with all the other people in it: one, in the same space.» [23] Das gemeinsame Musikmachen bildet somit – insbesondere nach den Bombenangriffen – einen Raum, in dem die Menschen miteinander durch einen gemeinsamen Interaktionsstil verbunden sind. Die Musik schafft einen Moment der Communitas, wie sie Victor Turners in der Beschreibung der rituellen Übergangsphasen vorfindet: In dieser Übergangsphase gibt es eine Schwelle (limen), an der «die Vergangenheit für kurze Zeit negiert, aufgehoben oder beseitigt ist, die Zukunft aber noch nicht begonnen hat – einen Augenblick reiner Potentialität, in dem gleichsam alles im Gleichgewicht zittert.»[24] In diesem Augenblick reiner Potentialität sei die «Befreiung der kognitiven, affektiven, volitionalen, kreativen usw. Fähigkeiten des Menschen von den normativen Zwängen»[25] möglich. Eine Communitas hat nach Victor Turner zudem etwas «Magisches» an sich und ist «subjektiv mit dem Gefühl unbegrenzter Macht verbunden.»[26] Da Victor Turner diesen Moment der spontanen Communitas im Hinblick auf Stammes- und Agrargesellschaften und deren Initiationsriten entwirft, lässt sich das Konzept auf das Gemeinschaftliche beim Musikmachen in den beiden sudanesischen Regionen nur zu einem gewissen Grad übertragen. Beziehungsweise, es sollte um den Aspekt der Affekte ergänzt werden. Denn in der Musik werden die individuellen Körper nicht nur von der Musik affiziert, sondern affizieren gleichzeitig auch andere – oder wie es Brian Massumi in «Politics of Affects» beschreibt:
«When you affect something, you are at the same time opening yourself up to being affected in turn, and in a slightly different way than you might have been the moment before. You have made a transition, however slight. You have stepped over a threshold. Affect is this passing of a threshold, seen from the point of view of the change in capacity»[27]
Affekte bringen immer einen Moment der Unklarheit, der Unschärfe oder Offenheit in eine Situation, eine Art Bruch, die eine Potentialität an neuen Möglichkeiten aufmacht. So wie es auch auf jenes Lachen zutrifft, das unmittelbar auf das Bombardement folgt. Präziser liesse sich deshalb die Form der Gemeinschaftlichkeit, die in diesem gemeinsamen Musikmachen entsteht, als affektive Communitas beschreiben.
Dieser Moment der affektiven Communitas beinhaltet daher auch ein transformatives Potential im Zusammensein von Menschen. Das heisst, in einer affektiven Communitas kann sich auch ein unmittelbares, politisches Element entwickeln, das sich beispielsweise in Form von Widerstand zeigt.
Musikmachen als Widerstandsform
Dieser Widerstand wird einerseits darin sichtbar, dass die sudanesischen Gemeinschaften mittels Musik das Leben und die Musik in Momenten, in denen der Tod präsent ist, zelebrieren. Andererseits wird das gemeinsame Musikmachen auch tatsächlich als Form des aktiven Widerstandes angesehen. Der Titel des Films verweise, so Hajooj Kuka, zugleich auf den Tod und das Leben, auf den Krieg und das Überleben, den Widerstand. In einem Interview beschreibt er diese Ambiguität des Beats wie folgt:
«And the Antonovs, when they throw these bombs, that has a beat. You hear the plane, and then, when they drop, you hear a sound. It’s like the pressure sound of this thing falling. And then it falls on the ground and then it hits and then there is vibrations. So there are those beats of the Antonov, which is death. And then there’s beats when beats is music, beats is the beat of the drums, the beat of the music that these people are playing with their feet. And that’s the other beat, which is the celebration. It’s basically fighting back the beats of the bombs.»[28]
Dieses «Fighting back» durch die Musik weist dieser Form der Gemeinschaftlichkeit, der affektiven Communitas, einen besonderen Status zu. Hajooj Kuka bemerkte im Interview zudem, dass die Musik eine «heilende Kraft» für die Gemeinschaften hat und auch Ausdruck der kulturellen Identitäten innerhalb der Gemeinschaften ist:
«Music has the power to heal the people. So it’s used by people to heal, for the community to thrive and stay, to celebrate their life. It’s a celebration of life. And at the same time, music, because the film talks about how the core reason for the war is identity, music is the best thing to show a person’s identity, and at the same time, to give it on to the next generations.»[29]
Der Ausdruck der kulturellen Identität ist zugleich auch die stärkste Form des Widerstands: Denn das Zelebrieren der Musik, der Tradition, der Kultur ist ein Bekenntnis zur Vielfalt und Selbstbestimmung angesichts extremer Unterdrückung durch die sudanesische Regierung. Durch die Musik drücken die Menschen in den Gemeinschaften aus, welcher kulturellen Identität sie sich zugehörig fühlen. Dabei bewahren sie nicht nur ihre eigene kulturelle Identität, sie entwerfen und formulieren sie in diesen Momenten neu und grenzen sich von der arabischen Kultur ab, die die sudanesische Regierung als eine Art Staatskultur vorgegeben hat.
Allerdings zeigt sich, sobald das gemeinsame Musikmachen als Widerstandsform genutzt wird, die Tendenz, dass sich aus einer spontanen Communitas eine normative entwickelt. Normative Communitas-Gruppen versuchen, so beschreibt es Victor Turner, «die Beziehungen der spontanen Communitas auf mehr oder weniger dauerhafter Basis zu fördern und aufrechtzuerhalten»[30], sie also als dauerhaftes, soziales System zu etablieren. Der normativen Communitas haftet dabei noch immer etwas von «Freiheit», «Befreiung» oder «Liebe» an, sie hat aber bereits eine neue, sie schützende Sozialstruktur etabliert.
Das Potential zur Veränderung
Die «Girls’ Music» könnte man als Beispiel für eine solche normative Communitas anführen: Hauptsächlich junge Frauen schreiben und singen in diesem Genre zusammen Texte zu populären Melodien. Inspiriert sind die Texte dabei von ihren eigenen Erfahrungen des Lebens in den Gemeinschaften: Gesundheit, Liebe, Krieg.[31] Einer der «Girls’ Music»-Songs im Film thematisiert zum Beispiel den Vorstoss einer Rebellengruppe und fordert die Soldaten mit dem mehrfach wiederholten Zeile «You better leave, my friend» auf, sich aus den Dörfern zurückzuziehen. Musikethnologin Alsarah Mohamed erklärt in Beats of the Antonov dieses im Sudan vor allem in den Vorstädten und Dörfern verbreitete Phänomen der «Girls’ Music» damit, dass sie den Menschen das Gefühle gebe, die Musik sei für alle da:
«Everyone has the right to pick up a drum, play, write lyrics to any melody, and all the melodies are light and fast, all tell simple stories from the daily lives of women. […] It is not the kind of music that demands someone else writes a poem, then another writes the melody, then another produces the music, then it turns into this whole ordeal that takes ownership of the music away from the singer. It becomes detached from you, so all you can do is sit and listen, while ‹Girls’ Music› is very close to those singing it. Because the nature of the music allows everyone to write lyrics. Everyone is allowed to sing. Anyone is allowed to drum. You can use a bucket to drum. In the end everyone sings together.»[32]
In der Art und Weise des Songwritings von «Girls’ Music» klingt die Erfahrung spontaner Communitas noch an. Allerdings zeigt sich darin bereits wieder eine Sozialstruktur. Früher wurde die «Girls’ Music» von Mädchengruppen nur an Hochzeiten zelebriert, in den letzten Jahren hat sie sich zu einem eigenen Genre entwickelt.[33] Die Offenheit beziehungsweise der Raum für reine Potentialität, die in der Communitas angelegt ist, ist in dieser populären Form des Songwritings nicht mehr so präsent wie beim gemeinschaftlichen Musikmachen in den Flüchtlingslagern und den bombardierten Dörfern. Die jungen Frauen tauschen sich im gemeinsamen Musikmachen über ihre Alltagserfahrungen aus, die Songs dienen als Mittel der Kommunikation, um – wie beim oben zitierten Beispiel – den Soldaten der Rebellenarmee aufzufordern, das Dorf zu verlassen. Dabei werden die Soldaten aktiv ausgeschlossen, sie sind innerhalb der Gemeinschaft nicht erwünscht.
In dieser Aufforderung der Frauen an die Soldaten, das Dorf zu verlassen, zeigt sich Musik beziehungsweise die affektive Communitas nicht nur als Ort der kulturellen Identität und Erinnerung, sondern vor allem als Ort, der das Potential zur Veränderung in sich birgt. Hajooj Kuka gibt in einem Interview ein weiteres Beispiel, das dieses Potential zur Veränderung offenlegt. Das Beispiel handelt von den Hakamat, den Sängerinnen und Dichterinnen, die im Sudan den gewaltsamen Konflikt durch ihre Lieder und Gedichte aktiv beeinflussen:
«In Sudan traditionally women have a very strong role. We even have a form of music that’s widespread through Sudan and even a lot in Darfur. I speak about these women who do some sort of singing, but also poems, and they’re called Hakamat. And they basically would influence society through these songs. So if you were trying to do something and it was a coward act, as a leader or just a soldier who ran away, and they say a poem about you, then everybody will start singing that poem. And then that would affect your position and status in society. So through these poems they manage to change leadership, change people’s minds and stuff. It was a very people-oriented way of influencing government in the time of war. That’s important because the war is mainly fought by men, so it’s easy to shun away the women. But these women find ways to be in the forefront of these wars and in the forefront of trying to have a voice, which is very hard. And you find the women are stronger, in saying it like it is and not being scared. Their voices are more down, closer to the grassroots. And you believe them more. It’s not like a politician who’s trying to complicate the matter or anything. These women just say it. And I think these women manage to simplify the topic because they really understand it and they really live it.» [34]
ZUR PERSON
Hajooj Kuka ist ein sudanesischer Regisseur und Aktivist. Er studierte Elektrotechnik an der American University of Beirut und Digital Design an der San Jose State University in Kalifornien. Anschliessend sammelte er in den USA bei diversen Plattformen als Video Editor sowie als Post Production Editor Erfahrungen. Zurück im Sudan arbeitete er als sogenannter Creative Director bei der Webseite 3ayin.com, die Berichte und kurze Dokumentationen über den Krieg im Sudan von lokalen Reportern veröffentlicht. Als Kriegskorrespondent reiste er mehrmals in das Nuba-Gebirge, bevor er für seinen Dokumentarfilm Beats Of The Antonov (2014) über 18 Monate in der Region des Blauen Nils und im Nuba-Gebirge verbrachte. Beats of the Antonov (2014) lief an über 100 Festivals und erhielt unter anderem den People’s Choice Documentary Award vom Toronto International Film Festival. 2018 erschien sein erster Spielfilm «Akasha». 2019 wurde er von den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur für fünf Wochen nach Winterthur in die Schweiz eingeladen. In dieser Zeit entstand ein Kurzfilm, der sich mit den «open spaces», die durch den Wandel der ehemaligen Industriestadt zur Kulturstadt entstanden sind, auseinandersetzt.
Bibliographie
Massumi, Brian, Politics of Affects, Cambridge 2015.
Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Das Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M. 2009.
Turner, Edith: Communitas. The Anthropology of Collective Joy, New York 2012.
Moohamed, Alsarah: Music from the Blue Nile: unique recordings from Sudan’s refugee camps, https://www.theguardian.com/world/2014/dec/10/-sp-alsarah-music-sudan-refugees-darfur-blue-nile, abgerufen am 20. Januar 2020.
Film
Beats of the Antonov, Regie: Hajooj Kuka, SND 2014, 68’. https://vimeo.com/112305935 (Login: Beats 2014)
Online-Interviews
Filmmaker-Interview mit PBS, www.pbs.org/pov/watch/beatsoftheantonov/video-beatsoftheantonov-classroom-clip-filmmaker-interview/, zuletzt abgerufen am 5.12.2019
Talk after Screening at Human Right Watch Festival, New York, 14. Juni 2015, www.youtube.com/watch?v=7ofhPntoEvk, zuletzt abgerufen am 8.12.2019
Interview am TIFF- Toronto International Film Festival, Toronto, November 2014. www.youtube.com/watch?v=zpMQ_Hy8IZs, zuletzt abgerufen am 8.12.2019
Interview mit Screen Africa am Durban International Film Festival, Juli 2015, www.youtube.com/watch?v=rRptrG8nSOM, zuletzt abgerufen am 8.12.2019
[1] Der Hinweis auf die beiden Regionen werden mittels Text eingeblendet. Vgl. Beats of the Antonov, Regie: Hajooj Kuka, SND 2014.
[2] Die historische Einbettung liefert ein dem Film vorangestelltes Intro: Mittels einer Karte und Text wird erklärt, dass sich der Sudan seit seiner Unabhängigkeit als Kolonialstaat im Jahr 1956 nahezu konstant in einem Bürgerkrieg befand. Am 9. Januar 2011 stimmten die Menschen im Süden des Sudans unter der Anführung der Sudan People’s Liberation Army (SPLA) für eine Abspaltung vom Norden. Obwohl auch die Menschen in den Regionen des Blue Nile und der Nuba Mountains neben dem Süden um ihre Rechte kämpften, blieben die Regionen Teil des Nordens. Da sich die SPLA-Rebellen weigerten, die Waffen niederzulegen, begann Regierungspartei National Congress Party (NCP) im Juni 2011 einen neuen Krieg in den beiden Grenzregionen.
[3] Dass die Menschen unmittelbar nach einem Bombenangriff beginnen zu lachen, hat Regisseur Hajooj Kuka mehrmals beobachtet. Vgl. Interview am TIFF – Toronto International Film Festival, Toronto, November 2014. www.youtube.com/watch?v=zpMQ_Hy8IZs, Minute 2:44 bis 3:30.
[4] Beats of the Antonov, Regie: Hajooj Kuka, SND 2014, Minute 3:57 bis 4:20.
[5] Ebd. Minute 4:40 bis 4:55. Vgl. hierzu auch Interview am TIFF – Toronto International Film Festival, Toronto, November 2014. www.youtube.com/watch?v=zpMQ_Hy8IZs, Minute 4:20 bis 5:05.
[6] Beats of the Antonov, Regie: Hajooj Kuka, SND 2014, Minute 4:40 bis 4:55.
[7] Hajooj Kuka arbeitete 2010 für die sudanesische Bewegung Girifna, die 2009 von Student*innen im Nordsudan gegründet wurde und seitdem diverse Aktionen organisiert, die sich gegen Krieg, Korruption, Diktatur, Ungerechtigkeit und Diskriminierung von Minderheiten wenden. Vgl. hierzu Interview mit Screen Africa am Durban International Film Festival, Juli 2015. www.youtube.com/watch?v=rRptrG8nSOM, Minute 3:40 bis 5:00.
[8] Filmmaker-Interview mit PBS, www.pbs.org/pov/watch/beatsoftheantonov/video-beatsoftheantonov-classroom-clip-filmmaker-interview, Minute 4:30 bis 5:50 .Vgl. auch Interview am TIFF – Toroto International Film Festival, Toronto, November 2014. www.youtube.com/watch?v=zpMQ_Hy8IZs, Minute, 1:00 bis 1:48.
[9] Gespräch mit Hajooj Kuka am 4. Oktober 2019. Hajooj Kuka weilte zwischen dem 1. Oktober und 10. November 2019 im Rahmen einer Kurzfilmproduktion für die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur in der Schweiz. Bei Recherchegesprächen zu sogenannten «open spaces» (gemeinschaftlich genutzte Orte wie Bibliotheken, Kulturräumen und besetzten Häusern) in Winterthur sprach die Autorin dieses Textes mit Hajooj Kuka über die Situation im Sudan.
[10] Vgl. auch Talk am Human Right Watch, Festival vom 14. Juni 2015, www.youtube.com/watch?v=7ofhPntoEvk, Minute 5:00 bis 5:40. Und Gespräch mit Hajooj Kuka am 4. Oktober 2019.
[11] Victor, Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M., 2009, S. 71.
[12] Ebd, S. 73.
[13] Ebd, S. 75.
[14] Beats of the Antonov, Regie: Hajooj Kuka, SND 2014, Minute 9:49 bis Minute 10:15.
[15] Vgl. Beats of the Antonov, Regie: Hajooj Kuka, SND 2014, Minute 9:56.
[16] Vgl. Victor, Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M., 2009, S. 71. Vgl. hierzu ebenfalls die Textstelle auf S. 73: «Je mehr spontan «gleich» Menschen werden, umso mehr spezifisch «sie selbst» werden sie.» Im englischen Original heisst es: «the more spontaneously ‹equal› people become, the more distinctively ‹themselves› they become.»
[17] Beats of the Antonov, Regie: Hajooj Kuka, SND 2014, Minute 13:30 bis 15:20.
[18] Filmmaker-Interview mit PBS, www.pbs.org/pov/watch/beatsoftheantonov/video-beatsoftheantonov-classroom-clip-filmmaker-interview, Minute 4:00 bis 4:30.
[19] Filmmaker-Interview mit PBS, www.pbs.org/pov/watch/beatsoftheantonov/video-beatsoftheantonov-classroom-clip-filmmaker-interview, Minute 8:25 bis 9:20.
[20] Victor, Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M. 2009, S. 83-87.
[21] Turner, Edith: Communitas. The Anthropology of Collective Joy, New York 2012, S. 43
[22] Ebd., S. 48.
[23] Ebd., S. 48.
[24] Ebd., S. 69.
[25] Ebd., S. 69.
[26] Ebd, S. 74.
[27] Massumi, Brian, Politics of Affect, Cambridge 2015, S. 4.
[28] Filmmaker-Interview mit PBS, www.pbs.org/pov/watch/beatsoftheantonov/video-beatsoftheantonov-classroom-clip-filmmaker-interview, Minute 7.30 bis 8:20.
[29] Filmmaker-Interview mit PBS, www.pbs.org/pov/watch/beatsoftheantonov/video-beatsoftheantonov-classroom-clip-filmmaker-interview, Minute 1:08 bis 1:35.
[30] Victor, Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M. 2009, S. 77.
[31] Beats of the Antonov, Regie: Hajooj Kuka, SND 2014, Minute 23:10 bis 24:30.
[32] Ebd, Minute 26:10 bis 28.00.
[33] Vgl. Mohamed, Alsarah: Music from the Blue Nile: unique recordings from Sudan’s refugee camps, https://www.theguardian.com/world/2014/dec/10/-sp-alsarah-music-sudan-refugees-darfur-blue-nile, abgerufen am 20. Januar 2020
[34] Filmmaker-Interview mit PBS, www.pbs.org/pov/watch/beatsoftheantonov/video-beatsoftheantonov-classroom-clip-filmmaker-interview, Minute 9:30 bis 11:00.