Eine Treppe führt in einen dunklen, höhlenartigen Raum hinunter. Die Atmosphäre ist mystisch. Lichtquellen sind punktuell auf Skulpturen und Objekte gerichtet und spiegeln sich im Wasser der rautenförmigen Brunnen. Die Szenerie erinnert an die Kultstätte eines längst vergessenen Volkes, möglicherweise an die Inka-Stätten in Südamerika oder an die Hindu-Tempel im Südpazifik. In den sechs Wasserbecken sind verschiedene Skulpturen und Objekte platziert. Je näher ich trete, desto fremder, ja ferner, erscheinen mir diese auf den ersten Blick so vertrauten Skulpturen und Objekte: Die Totempfähle lassen mich an indigene Völker im Pazifischen Nordwesten denken. Doch etwas stimmt nicht – die Farben sind zu glänzend, und das Material… ist das nicht Keramik?
Im Augenwinkel entdecke ich eine schwarze Schlange in einem der Wasserbecken. «War die vorher schon da?», frage ich mich und bemerke, dass es sich bei der Schlange bloss um die Spiegelung der Videoinstallation handelt. Dennoch suche die Umgebung nach weiteren Tieren ab. Schlangen haben in vielen Kulturen einen besonderen Status, nicht selten findet man in Tempeln Schlangengruben. Vielleicht befinde ich mich ja in der Kultstätte einer Schlangengöttin? Oder im biblischen Paradies? Wohl kaum. Zu archaisch und düster mutet diese eigenartige Welt an – und dennoch erscheint sie modern, bunt und schillernd. Von der Decke dieses Höhlenreiches hängen Wandteppiche aus glitzernden Pailletten. Ihre Muster wechseln, wenn ich mit meiner Hand darüber fahre. Andernorts flimmern Bilder an den Wänden, die in eine farbig-collagierte Bildwelt voller Erzählungen führen. Plötzlich tritt aus einer Ecke des Raumes eine Prozession mir unbekannter Gestalten. Sie tanzen, maskiert und singend, getrieben von elektronischen Beats und wildem Geschrei, vorüber…
Im Keller des Kornhauses an der Unteren Vogelsangstrasse in Winterthur haben die Ostschweizer Künstler*innen Olga Titus und Andy Storchenegger eine Art Kultstätte für eine neue, mögliche Gemeinschaft aufgebaut. Diese «Sehnsuchtslandschaft», wie sie Olga Titus auch nennt, entstand im Rahmen der ersten Ausstellung im neuen Zuhause der oxyd-Kunsträume und trägt den Titel «Hybride Identitäten».
In den Dialog treten
«Hybride Identitäten» bezeichnen – pauschal ausgedrückt – Menschen, die sich zwei oder mehreren kulturellen und sozialen Räumen zugehörig fühlen. Beginnen sie sich mit diesen Räumen auseinanderzusetzen, stellt sich die Frage nach der Gestaltung eines Lebens zwischen Kulturen. Der Begriff der kulturellen Hybridität prägt diese Art der Auseinandersetzung und meint nicht nur die Vermischung, sondern auch die Anerkennung von Differenzen. Im traditionellen Kulturverständnis wurden Kulturen lange als homogen, in sich geschlossen und als Träger von stabilen Normen und Werten betrachten. Laut dem Literaturtheoretiker Homi K. Bhabha zeichnen sich Kulturen jedoch durch ihren stetigen Wandel und ihre Unterschiede – ihre kulturellen Differenzen – aus. Dadurch, dass in Kulturen permanent diskutiert und um soziale Wirklichkeiten gestritten wird, entstehen neue Bedeutungen, Interpretationen, Sinn und Unterschiede.
Sichtbar wird diese kulturelle Hybridität, wie sie Homo K. Bhabba beschreibt, vor allem in Grenzgebieten, in denen sich Kulturen räumlich vermischen. In einer Zeit globaler Umbrüche, Migrationsströmungen und digitaler Vernetzung begegnen sich Kulturen jedoch auch über ihre räumlichen Grenzen hinaus. Die Unterschiede werden dabei in politischen Debatten augenscheinlich: Die eigene Identität scheint in Gefahr und bedroht durch das Fremde. Damit aber nicht ausgrenzende, gar faschistische Meinungen die Debatten bestimmen, sei es wichtig, so schreibt der Sinologe und Philosoph François Jullien in seinem Buch «Es gibt keine kulturelle Identität», den Blick auf das Verbindende zu richten, nach dem Gemeinsamen zu suchen und sich gleichzeitig mit dem Anderen, dem Unbekannten auseinanderzusetzen, um es zu verstehen. Damit ein Austausch über Ideale und Werte, eine Diskussion über Identität und Tradition stattfinden kann, braucht es Begegnungszonen – oder dritte Räume, wie Homi K. Bhabha diese Orte bezeichnet. Solche Orte erzeugen Spannung und bringen neue kulturelle Differenzen hervor. Ein Ausstellungsort kann ein solcher dritter Raum sein: Denn wenn Kunstschaffende unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Ansätzen in einen Dialog treten, produzieren sie nicht nur neue Inhalte und Bedeutungen, sondern treten mit diesen wiederum in einen Dialog mit den Ausstellungsbesucher*innen. Genau das lässt sich auch in der Ausstellung «Hybride Identitäten» in den oxyd Kunsträumen beobachten.
Leben zwischen den Kulturen
Im Film «Hybrids» hat Olga Titus zum Beispiel eine Gemeinschaft kreiert, die in einer steinigen Wüste eine andere, fremde Welt erschaffen wollte. Die «Hybriden» beziehungsweise die «hybriden Identitäten» dienen in der Ausstellung im oxyd als Ausgangspunkt für eine neue, zukunftsorientierte Welt. Der Begriff hybride Identitäten bezeichnet Menschen, die sich verschiedenen kulturellen Räumen zugehörig fühlen. Olga Titus hat selbst einen interkulturellen Hintergrund: Ihre Mutter kommt aus Graubünden, ihr Vater stammt aus Malaysia, ihre Grosseltern aus Indien. Dieses Leben zwischen den Kulturen thematisiert die Winterthurer Künstlerin, indem sie die Bräuche und Traditionen verschiedenster kultureller Räume erforscht und in ihren Arbeiten aufeinanderprallen lässt. Mit viel Witz und Ironie schafft sie Stimmungsbilder, wählt dafür folkloristische, exotische wie auch Schweizer Klischeebilder und bedient sich verschiedenen handwerklichen Traditionen. Olga Titus überhöht und übertreibt gerne, spiegelt und hinterfragt so zugleich das Bild vertrauter und fremder Kulturen. In ihren Videos und Installationen wird so nicht nur das Schöne, sondern auch das Absurde und Konfliktreiche in unserer Welt sichtbar. Sie fragt danach, was Identität eigentlich ist und wo ihre Grenzen liegen. Dabei konzentriert sich die Künstlerin längst nicht mehr nur auf ihre biografischen Wurzeln. Auch bei Atelieraufenthalten im Ausland und auf sonstigen Reisen erforscht und befragt sie immer wieder ihre eigene «Hybridität» im Austausch mit dem jeweiligen Umfeld.
Auch Andy Storchenegger sucht die Begegnung mit anderen Kulturen. Sein Vorgehen ist im Gegensatz zu dem von Olga Titus nicht auf Selbsterforschung ausgelegt, sondern gleicht dem eines Anthropologen. Eine Recherche zu Paradiesvorstellungen führte ihn zunächst in die Südsee, danach reiste er nach Afrika und Südamerika, um archaische Bräuche zu erforschen. In der Schweiz begann der St. Galler Künstler ebenfalls nach dem Wilden und Urtümlichen zu suchen und fand es in den lokalen Fasnachtstraditionen. «Urtümliche Maskenbräuche findet man meist an Orten, wo man sie zuletzt erwartet hätte: beispielsweise in einer Aargauischen Mittellandgemeinde», bemerkt Andy Storchenegger. Er besucht die Rituale, fotografiert die Dorfbewohner*innen und fragt nach den Ursprüngen des Brauches. «Oft wissen sie allerdings nichts mehr über die Herkunft, sie pflegen die Bräuche einfach aus Traditionsbewusstsein weiter.» Gerade bei den lokalen Masken entdeckte der 42-Jährige unerwartete Parallelen zu denjenigen in der Südsee, Afrika und Südamerika. Bei den Masken existiert eine globale, archaische Gemeinsamkeit, sozusagen das Eigene im Fremden und umgekehrt. Diese Auseinandersetzung mit Bräuchen beeinflussen die künstlerischen Arbeiten von Andy Storchenegger. So hat er zum Beispiel in einem gemeinsamen Projekt mit einem peruanischen Künstler an Masken gearbeitet. Die Vorlage war eine Fasnachtsmaske aus dem Sarganserland. Die dreiteilige Maskenserie, die daraus entstand, verbindet die Tradition der Kukumas, einem indigenen Stamm aus dem Amazonasgebiet, mit dem Schweizer Fasnachtsbrauch.
«Ein neues Gemeinsames» entsteht
Für Andy Storchenegger sind die hybriden Identitäten «Körper, in denen zwei Seelen wohnen». In einer heterogenen Gesellschaft seien Identitäten aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt. Dabei sei das Gesamtbild, das sich bei der Vermischung dieser Elemente ergebe, viel spannender, als die Suche nach der Herkunft ihrer Bestandteile. Die Installationen ermöglichten, so Andy Storchenegger, «eine Begegnung mit einer anderen Kultur – keine bestehende, sondern eine neue, fremde Kultur». Es sind die Widersprüche, die Diskussionen und Debatten, die Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Unbekannten, die die beiden Kunstschaffenden interessieren – und auch Ausgangspunkt ihrer Kultstätte sind, die sie im oxyd aufgebaut haben. Das Nebeneinander beziehungsweise das Zwischen-den-Kulturen-Sein widerspiegelt sich dabei auch in der Zusammenarbeit: Die Kultstätte entstand nämlich nicht als gemeinsame Arbeit. «Andy und ich arbeiten nicht im gleichen Atelier und sind deshalb auch nicht im ständigen Austausch», erklärt Olga Titus. Die Ausstellung sei daher eine Collage, ein loses Gefüge ihrer Arbeiten, bei dem die Frage, wo «ein neues Gemeinsames» entstehen kann, im Mittelpunkt steht. Dieses Gemeinsame, so beschreibt es Eve Hübscher, Kuratorin der oxyd-Kunsträume, entstehe im Nebeneinander, im Collagieren oder im Neu-Kombinieren, kurz im Dazwischen der Arbeiten. Dort werden neue Inhalte und Bedeutungen produziert. «Gerade weil die beiden in Dialog treten und sich auf das Verbindende zwischen ihnen konzentrieren, erschaffen sie eine neue, gemeinsame Welt», sagt die Kuratorin. Diese Welt erweitere sich zudem laufend: Denn auch die Besucher*innen treten mit den Werken in einen Dialog…
…und manchmal stürzt die Welt auch in eine Krise: Als Abschlussevent der Ausstellung ist eine Intervention geplant. Eine «Störung», wie es Nathalie Bissig bezeichnet. Die aus Uri stammende Künstlerin beschäftigt sich ebenfalls mit dem Brauchtum der Fasnacht, insbesondere mit dem kollektiv gelebten Umgang mit Ängsten. Sie interessiert sich dabei vor allem für die Maskierung beziehungsweise den Impuls, aus einer bestehenden Ordnung auszubrechen und das geltende Gesetz aufzuheben. Zusammen mit der Band Laserwolf hat Nathalie Bissig eine Performance erarbeitet, die sich ans Konzept der Katzenmusik anlehnt: Bei diesem Fasnachtsbrauch aus Uri veranstalten die Einwohner*innen am Schmutzigen Donnerstag mit Büchsen, Hörnern, Trommeln, Rätschen und alten Sensen einen höllischen, missklingenden Lärm.
Hybride Identitäten
Vernissage, 20. August, 18:30 Uhr
Finissage, 2. Oktober, 20 Uhr
20. August bis 4. Oktober 2020
Donnerstag bis Samstag, 16 bis 20 Uhr
Sonntag, 14 bis 17 Uhr
oxyd-Kunsträume
Untere Vogelsangstrasse 4
Bibliographie
Jullien, François: Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin 2017. Aus dem Französischen übersetzt von Erwin Landrichter.
Bhabba, Homi K.: Über kulturelle Hybridität: Tradition und Übersetzung, Wien/Berlin 2012
Der Text «Im Dialog mit dem Hybriden» wurde in einer kürzeren Fassung zuerst in der April-Ausgabe N°84 des Kulturmagazin Coucou als Vorschau auf die Ausstellung veröffentlicht. Die Ausstellung wurde wegen der Corona-Krise auf Ende August 2020 verschoben.