«Episches Theater ist Protest.» Ein Interview zum Stück «Die postmoderne Strassenszene».

Text: Julius Schmidt Sandra Biberstein

Vorbemerkung: Das folgende Interview entstand im tagträumerischen Dialog zwischen Sandra Brechtstein und J. Heinerius Schmidt. Da die beiden mehrere waren, kam ein ganzer Schwarm Rhizome zusammen.

 

Kritiker*in: Als Sie im Interview mit dem Eulenspiegel über ihr neustes Stück Die Postmoderne Strassenszene sprachen, haben Sie erwähnt, dass Brechts Essay Die Strassenszene … [sie inspiriert hat.]

Theaterregisseur*in: Moment, Sie können das doch nicht auf einen Text reduzieren. Das Modell der Strassenszene legt Brecht in mehreren Texten dar. Ich denke da zum Beispiel an seine Ausführungen zur «sozialen Geste». Dort kommt das Verhältnis zwischen der Körperlichkeit auf der Strasse und derjenigen im Theater in den Blick. Und an Über die Theatralik des Faschismus, in dem die Notwendigkeit des Modells der Strassenszene historisch verortet wird. Die Textpassagen in meinem Stück, in denen Theorie verhandelt werden, sind aus dem Kontext gerissene Wiederholungen dieses Textes, zum Beispiel die Passagen über die Einfühlung als ein entscheidendes theatralisches Mittel der Faschisten[1], als das Verhindern der Kritik und als restlose Identifikation des Publikums mit der Stimme des Despoten: «Ich bin eure Stimme», pflegte Hitler zu sagen.[2]

Kritiker*in: Nun gut, da haben Sie recht. Aber meinen Sie nicht auch, dass Brecht das Modell der Strassenszene in seinem Essay am klarsten darlegt? Zum Beispiel der V-Effekt, die Demonstration als Abgrenzung zur Einfühlung und der Schauspieler, der sich nicht restlos verwandelt?

Theaterregisseur*in: Ja natürlich. Brecht entwirft anhand des Beispiels des Mini-Dramas an der Strassenecke das Modell der Strassenszene, die er anschliessend in die Theaterszene übersetzt. Die dient ihm dann als Ausgangspunkt fürs epische Theater. Besonders fällt das auf, wenn er über das «natürliche epische Theater» spricht, von dem Brecht sagt, man begegne diesem Theater in Strassenszenen. Im Zusammenhang mit der Theaterszene hingegen spricht er dann schlicht vom «epischen Theater». Ähnlich verwendet er auch die Worte Demonstration und V-Effekt. Ich kann Ihnen das jetzt schlecht veranschaulichen, hätte ich ein Blatt Papier, würde ich es so aufzeichnen:

Strassenecke
—————–  Theaterbühne
= Strassenszene
—————–
Theaterszene
= natürliches episches Theater
———————————-
episches Theater
= natürlicher V-Effekt
————————
V-Effekt
= Demontsration
——————
Demonstration

Aber leider habe ich gerade kein Blatt Papier zur Hand.

Kritiker*in: Sie sprechen von einer Übersetzung. Aber was genau ermöglicht die Übersetzbarkeit von der Strasse ins Theater?

Theaterregisseur*in: Brecht beobachtet auf der Strasse eine Theatralik, die er in seinem epischen Theater darstellen will: die Demonstration.

Kritiker*in: Bei dem Wort Demonstration schwingt heute das Wort Protest mit: Leute, die auf die Strasse gehen, beschriebene Schilder, Megaphone. Aber das ist nicht die Art von Protest, die Brecht meinte.

Theaterregisseur*in: Es ist eine Demonstration, die noch nicht der Protest selbst ist, aber doch schon protestiert. Was meine ich damit? Die Demonstration ist die nicht-identische, unvollständige Wiederholung, die auf ein Erforschen des Sozialen abzielt, die das Theater vielleicht zu einem Teil jenes wissenschaftlichen Zeitalters macht, von dem Brecht manchmal spricht.[3] Was meine ich nun mit nicht-identischer, unvollständiger Wiederholung? Das ist nicht leicht zu beantworten. Die Frage ist hier: Was bedeutet ‹vollständig›? Es ist die illusionäre Identität von dem Schauspieler und dem, was er nachstellt, gewissermassen eine Nachahmung in allen Punkten. Brecht spricht hier von der Fusion, man könnte es auch Verschmelzung oder Vereinheitlichung nennen, eine Wiederholung, die den Bruch verleugnet. Welchen Bruch? Den zwischen Nachahmendem, also dem Schauspieler, und Nachgeahmtem, also der Figur, dem Ereignis. Dieses Mittel, die Fusion, zu verwenden, wirft Brecht der Einfühlung vor, da es sich um ein Mittel handelt, das auch Diktatoren, Despoten, faschistische Führer verwenden. Durch die Verwendung der Fusion hat sich das übliche Theater, das Theater vor dem epischen Theater, das Theater der Einfühlung schuldig gemacht: Sein essentielles ästhetisches Mittel, das, was es perfektionierte und reproduzierte, liess sich für die faschistische Politik instrumentalisieren. Brechts Projekt des epischen Theaters wird gewissermassen im Laufe der Geschichte so auch zu einer Entsühnung des Theaters. Mindestens in dieser Hinsicht ist Brechts Modell der Demonstration, das er ja Synonym mit dem V-Effekt verwendet, eine Form des Protests.

Jetzt dürfte auch klar sein, was ich vorhin damit gemeint habe, dass die Wiederholung reduziert ist auf das Soziale. Der V-Effekt ist eine fokussierte Wiederholung, ein eingreifender Angriff: Er erschüttert das Territorium des üblichen Theaters, bricht Intensitäten frei, bringt die Faschismus-Maschine zum Stocken, die Despoten-Stimme zum Stottern, zersplittert die Masse, die sich mit dem Despoten identifiziert hat. Würde ich noch einmal mein imaginäres Blatt Papier zur Hand nehmen, sähe das so aus:

episches Theater
——————–
übliches Theater
= Demonstration
——————
Einfühlung
= nicht-identische, unvollständige Wiederholung
——————————————————–
restlose Verwandlung
= Protest
—————
Faschismus

Das nächste Mal nehme ich meinen Skizzenblock mit. Also ich wiederhole: Episches Theater ist Protest, übliches Theater ist Faschismus.

Kritiker*in: Auf die Ästhetisierung der Politik antwortet der Kommunismus mit der Politisierung der Kunst[4] – so oder so ähnlich hat es doch Benjamin im Kunstwerkaufsatz formuliert.

Ja, natürlich. Selbstverständlich, wer geht da nicht mit. Das ist alles sehr einleuchtend. Das konnte man ja bereits im Eulenspiegel lesen. Ihre Analyse wie auch ihr Theaterstück ist blendend, äusserst blendend, vielleicht sogar – ich erlaube mir das zu sagen – verblendend. Denn was im Eulenspiegel-Interview nicht angesprochen wurde, ist die Frage, ob Ihre unveränderte Wiederaufnahme von Brechts Strategien nicht auch problematisch ist. Wie sie selbst ausgeführt haben, entstand Brechts kritisches Vorgehen als Reaktion auf die Ereignisse seiner Zeit. Überlegungen darüber, wie viel die Formen des Faschismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den heutigen gemein haben, sind erschreckend abwesend – sowohl im Interview als auch in ihrem Theater, wie unter anderem P. Pasolino in seiner Rezension zu ihrem Stück anmerkte.[5]

Theaterregisseur*in: Diese Kritik ist natürlich problematisch, man muss sich ja nur mal anschauen, aus welchem Umfeld Pasolino stammt. Er schreibt für Der Flunke. Hingegen ist Hanna-Thies Lehfrau vom Eulenspiegel, die regelmässig für die Bankfurter Allgemeine, die Neue Zureicher Zeitung und die Erdwoche schreibt, als Theaterkritikerin ernst zu nehmen. Ausserdem müsste man sich doch fragen, ob wir durch die Mode unserer Zeit, alles zu überhistorisieren, nicht auch den Blick für das Wesentliche verlieren. «Meinst du, die Praxis des Anstreichers ist neu?»[6] Mit diesem Satz endet der Dialog in Brechts Über die Theatralik des Faschismus. Diese Frage in ihrer Offenheit und Unbeantwortetheit sollte uns zu denken geben. Wer sie mit Nein beantwortet, wird natürlich der Kritik von Pasolino zustimmen. Wer sie aber mit Ja beantwortet – und ich beantworte sie mit Ja –, lenkt den Blick auf das Wesen der Unterdrückung in ihrem zeitlosen Charakter. «Wenn sie mit Fleischernmessern durch eure Schlafzimmer gehen, werdet ihr die Wahrheit wissen»[7], heisst es am Ende von Heiner Müllers Hamletmaschine.

Kritiker*in: Was wollen Sie damit sagen?

Theaterregisseur*in: Jemand schläft an einem Ort, den er für sicher hält, dann tritt jemand ein, der mit einem Fleischermesser bewaffnet ist. Diese Szene einer Home-Invasion kennen wir aus Slasher-Filmen, die ein Phänomen unserer Zeit sind. Wenn die Gefahr in den privatesten Raum eindringt, bäumt sich die Unterdrückung in ihrer bedrohlichsten Gestalt vor unserem schlafenden, bewusstlosen, schutzlosen Körper auf. Das ist die extremste Darstellung einer mikropolitischen Szene. In Über die Theatralik des Faschismus schreibt Brecht, dass die kleinen Dramatisierung für den Nationalsozialismus charakteristisch sind.[8] Wenn sich der Faschismus also in kleinen Dramatisierungen zeigt und der V-Effekt kleine Teilvorgänge hervorhebt, verfremdet, sie merkwürdig macht[9], dann lässt sich der Faschismus durch diese Technik im Theater sichtbar machen.

Das Zitat «Wenn sie mit Fleischernmessern durch eure Schlafzimmer gehen, werdet ihr die Wahrheit wissen»[10] rief bei mir auch die Strassenszene[11] von Heiner Müller in Erinnerung. Was Brecht als Modell konzipiert, scheint Heiner Müller an einer Beobachtung zu reflektieren. Zwei Freunde sind auf dem Heimweg, beide sind angetrunken, der jüngere trägt einen hellen Anzug und Krawatte, der ältere einen abgetragenen dunklen Stoff. Kaum haben sie sich verabschiedet, fragt der jüngere, ob der ältere eine Zigarette will. Der ältere bejaht und schlägt dann vor, dass beide den halben Weg gehen und sich in der Mitte treffen. Hier passiert etwas Interessantes: Denn es ist nicht so, dass allein der junge Mann dem älteren etwas anbietet. Es handelt sich um ein gegenseitiges Angebot, welches die Theatralität der Freundschaft bestätigen soll. Der jüngere bietet eine Zigarette an, der ältere bietet das Ritual an, dass beide den halben Weg zurücklegen. Das letztere ist in Hinblick auf die Freundschaft nicht weniger als das erste ein Angebot, obschon es eine Forderung darstellt: Ich fordere dich auf, mir entgegenzukommen und biete dir damit an, unsere Freundschaft zu bestätigen. Erst wenn man dieses Zusammenbrechen des Unterschiedes zwischen Forderung und Angebot versteht, kann man begreifen, dass die Weigerung des jüngeren, diesem Angebot nachzugehen, die Freundschaft bedroht. Denn dadurch verhindert er das Gleichgewicht der Angebote und seine Geste der Freundschaft wird zu einer Geste der Gönnerschaft. In diesem Moment scheint die Macht auf. Das Verhältnis der beiden zueinander gerät in Gefahr, sich vom Verhältnis zweier Freunde zum Verhältnis zweier Feinde zu wandeln. In dieser Szene drückt sich ein Moment mikropolitscher Feindschaft aus. Man kann sich ja vorstellen, wie sich die Dringlichkeit einer solchen Analyse vor dem Hintergrund eines faschistischen Regimes verschärft.

Kritiker*in: Meinen Sie das ernst?

 

[1] Vgl. Brecht, Bertolt: Über die Theatralik des Faschismus, in: Gesammelte Werke 16, Schriften zum Theater 2, Frankfurt am Main 1967, Herausgegeben Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann), S. 560.
[2] Vgl. Ebd., S. 566.
[3] Vgl. Brecht, Bertolt, Strassenszene, S. 371.
[4] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2. Fassung), in: ausgewählte Werke II, Berlin 2018, S. 225.
[5] Vgl. Pasolini, Pier Paolo: Studien über die anthropologische Revolution in Italien, in: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 2016, 50-52.
[6] Brecht, Bertolt: Über die Theatralik des Faschismus, S. 568. Brecht bezeichnete Hitler oft als Anstreicher.
[7] Müller, Heiner: Die Hamletmaschine, in: Der Auftrag und andere Revolutionsstücke, Dietzingen, Reclam 1988, S. 46.
[8] Vgl. Brecht, Bertolt: Über die Theatralik des Faschismus, S. 560.
[9] Vgl. Brecht, Bertolt: Die Strassenszene, S. 377.
[10] Müller, Heiner: Die Hamletmaschine, S. 46.
[11] Müller, Heiner: Die Strassenszene, in: Ders.: Werke 2. Die Prosa, Frankfurt am Main 1999. S. 152-153.