Die Unschärfe zwischen den Strahlen: Henryk Stażewskis Installation «9 rayons de lumière dans le ciel»

Text: Pei Bei Xu

Der Kontrast von klaren Linien und Unschärfe, die Position zwischen abstrakter Kunstinstallation und politischer Propaganda: Konzeptuelle Kunst in den späten 1960er Jahren in der Volksrepublik Polen war ein Balanceakt zwischen individuellen künstlerischen Konzepten und Ansprüchen oder Interpretationen von institutioneller Seite. Dieser Beitrag diskutiert die künstlerische und politische Unschärfe als Mittel sowie die Funktionen des „Dazwischen“ an Henryk Stażewskis Entwurf und Installation von ,«9 rayons de lumière dans le ciel» von 1969/70.

Bereits 1969 veröffentlichte die Galeria Foksal in Warschau die französische Broschüre «9 rayons de lumière dans le ciel» mit dem Entwurf des Künstlers Stażewski (Abb. 1).[1] Stażewski, der Pionier der Avantgarde der 1920er und 1930er-Jahre, Vertreter der konstruktivistischen Bewegung und Mitschöpfer der Bewegung der Geometric Abstract Art von den 1960er- bis 1980er-Jahren,[2] war eng mit dieser Galerie verbandelt, die ab 1966 einen gewissen Freiraum für polnische experimentelle Kunst bot. Stażewski plante, buchstäblich neun Lichtstrahlen am Himmel zu erzeugen, die von Scheinwerfern in jeweils unterschiedlichen Farben geworfen werden sollten.[3] Das Projekt trug den alternativen Titel einer ,,unbegrenzten Vertikalkonstruktion“, denn die Strahlen zerstreuen sich allmählich in den Himmelsraum und sind so gewissermassen endlos. Der Entwurf wurde für das Symposium «Wrocław ’70», das als die erste Manifestation des Konzeptualismus in der polnischen Kunst galt, am 9. Mai 1970 als Installation umgesetzt. Am Symposium selbst wurden nur drei von mehreren Dutzend eingereichten Projekten umgesetzt, darunter Stażewskis Installation von «9 Lichtstrahlen am Himmel». Für seine Arbeit erhielt Stażewski die Unterstützung der polnischen Volksarmee, die ihm die Flugabwehrscheinwerfer als ready-made gewährte. Die Installation wurde als Dokumentation fotografiert (Abb. 2). Neben dem Entwurf in schwarz-weiss und fotografischer Montagetechnik (Abb.1) liegt also auch eine Dokumentierung der Installation in Form einer Farbfotografie vor.

Gewissermassen schreibt sich Stażewskis Installation in die sozrealistische Prämisse ein, dass ein Kunstwerk nicht nur dekorative Zwecke erfüllen dürfe: Das Symposium «Wrocław ’70» vom 9. Mai 1970, in Zuge dessen Stażewskis Installation umgesetzt wurde, fand zur Feier des 25. Jahrestags der «Rückkehr der nördlichen und westlichen Länder ins Mutterland» statt[4] – also der Verschiebung der Grenzen Polens nach Westen und der Integration weiter Gebiete, die zuvor zum Deutschen Reich gehört hatten. Zudem war der 9. Mai der Tag des Sieges für die Volksrepublik Polen – der von Moskau anerkannte Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Dieser Feiertag war besonders wichtig für die «zurückgewonnenen» Gebiete, in denen die Angst vor dem deutschen Revisionismus am dringlichsten war und auch das kommunistische Herrschaftssystem mit der Sowjetunion im Rücken stärker legitimierte. Die Feierlichkeiten in Breslau sollten also auch dazu dienen, die nach dem Zweiten Weltkrieg neu geschaffenen Grenzen zu festigen und die Zugehörigkeit der ehemals deutschen Gebiete zur Volksrepublik Polen zu stabilisieren.

Abb. 2 : Holuka, Zdzisław. Henryk Stażewski, Kompozycja pionowa nieograniczona, Sympozjum Wrocław ’70 [Unbegrenzte vertikale Komposition, Symposium Wrocław ’70], 1970. Fotografie. Quelle: Muzeum Wirtualne, www.muzeumwirtualne.pl/zbiory/wizerunki//dtzsp/www/dtzsp_670.jpg (aufgerufen am 17.05.2020)

Die neun Lichtstrahlen sollten den Frieden propagieren, weshalb die Scheinwerfer nicht wie die Kriegssuchscheinwerfer der Flugabwehr aussehen sollten.[5] Stażewski «entwaffnete» sie, indem er ihnen verschiedene Farben gab. Dies weckte noch eine andere Assoziation: die Farbe und Überschneidung einzelner, sich kreuzender Strahlen «entwaffneten» auch die Erinnerung an die Dekoration des Deutschen Stadions in Nürnberg zur Versammlung der NSDAP, wo einfache weisse Lichtsäulen die Krone des Stadions umgaben.[6] Es ist daher nicht verwunderlich, dass die neun farbigen Strahlen nicht nur als Lichter des Friedens bezeichnet wurden. Sie durchkreuzten aktiv die «Strahlen» des Nationalsozialismus und konnten deshalb auch als Dominierungsversuch der letztlich siegreichen Seite gelesen werden.

In einem Interview aus dem Jahr 1969 sagte Stażewski: «Ein Kunstwerk sollte sich nicht in die Umgebung einfügen, nichts dekorieren oder vereinfachen. Es sollte diese künstlerisch dominieren.»[7] Gerade unter diesem Begriff der «Dominanz» wird zwischen Zusammenspiel von künstlerisch-ästhetischem Konzept und politischer Inszenierung von Macht am Beispiel der «9 Strahlen» greifbar. Die Mechanismen von Dominanz und Hierarchiebestrebungen zeigen sich etwa am grafischen Entwurf für die Installation.

Abb. 1: Stażewski, Henryk. 9 rayons de lumière dans le ciel, 1969. Entwurf. Broschüre Galeria Foksal, Warschau. Quelle: Archiwum Galerii Foksal.

Deutlich zeigt die Montage der neun Strahlen eine starre und harte aber klare Erscheinung, die sich auf die Unwirklichkeit der Szenerie auswirkt. Der Helldunkel-Kontrast erzielt eine Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Objekten. Die hellen Strahlen, die durch ihre visuelle Präsenz an Wichtigkeit gewinnen, kontrastieren mit dem dunklen Hintergrund, der als unwichtig erscheint. Dieser Symbolgehalt evoziert eine aggressive Emotion: In dieser Art drücken die weissen Lichtstrahlen nicht nur den Frieden aus, sondern vielmehr spielen sie auf eine Vorführung zum Angeben der militärischen Stärke an. Es handelt sich eher um einen «Triumph des Subjektivismus» vom Künstler.[8] Ausserdem hebt der unscharfe Hintergrund einen Sinngehalt oder eine Metapher für die weissen Lichtstrahlen hervor. Die hellen Lichtstrahlen, die durch die klaren breiten Linien gebildet sind, schiessen im dunklen Raum unendlich hinauf. Daher demonstrieren sie eine metaphorische Prahlerei. Sie symbolisieren nicht nur die Kriegssuchscheinwerfer der Flugabwehr, sondern prahlen vielmehr – in einer politischen Interpretation – mit der Luftverteidigungsmachtstellung. Der Entwurf besteht aus Schwarzweissfotografie und Montage (Abb. 1). Er spielt mit dem Kontrast von Hell und Dunkel sowie von Klarheit und Unschärfe. Der Hintergrund wurde mit der Methode des Verwischens fotografiert. Im nächtlichen Dunkel schimmern viele weisse Punkte in verschiedener Grösse, die als Licht von den vage sichtbaren Häusern und Strassen ausgestrahlt werden, im unteren Bildraum. In der Mitte des dunklen Raums sind die neun starren und weissen Strahlen als breite Linien vom unteren Bildrand bis zum oberen Bildrand montiert. Ganz oben auf jeder breiten Linie von rechts nach links (vom Betrachter aus gesehen) ist jeweils ein englisches Wort sichtbar: green, yellow, blue, blue, violet, red, light blue, red, und orange. Die in sich kreuzenden klaren weissen Strahlen ragen wie ein Ölbohrturm in der unscharfen nächtlichen Dunkelheit empor. Sie dehnen und erweitern sich endlos in den Himmel.

Der Kunsthistoriker Andrzej Turowski kommentiert die Werke Stażewskis mit den Worten «conceptual notes beyond form».[9] Gemäss Turowski basiert die künstlerische Position Stażewskis auf zwei Aufklärungstraditionen: Rationalismus und Absolutismus. Im ersteren Fall wird einer Kunst, die auf den Gesetzen der Geometrie und Arithmetik beruht, endlose Möglichkeiten für rationales Wissen über die Welt zugesichert. Die letztere Tradition begründet die Überzeugung, dass die Ästhetik im Laufe ihrer eigenen Entwicklung zum Absoluten tendiert.[10] Weiterhin, nach Kemp-Welch zählen «line», «space» und «between» zu den abstrakten Konzepten Stażewskis.[11] In diesem Entwurf sind die klaren und hellen Lichtstrahlen von den geraden Linien gestaltet. Der unscharfe und dunkle Hintergrund kann als «space» gelten. Die Diskrepanz zwischen Hell und Dunkel sowie zwischen Klarheit und Unschärfe soll als «between» angesehen werden. Kemp-Welch zitiert Stażewskis Ausführung über die Linie wie folgt: «Line is not merely the border between one object and another, or between object and background, but also has its own independent expression… For example, certain lines (irregular curves, broken lines) summon up dynamic excitement – others (straight lines, arcs) bring a feeling of peace.»[12] Stażewski schrieb bei vielen Gelegenheiten über die Linien.[13] Er behauptet, dass die Welt in den geistigen Augen eines Künstlers der Abstraktion darin bestehen solle, dass er nur an die Bewegung der Linien denke. Diese Linien sollten parallel verlaufen, sich voneinander entfernen, oder sich kreuzen. Zwischen ihnen solle Nichts vorhanden sein. Stażewski betrachtet sein «Dazwischen» als eine Kombination: «a place in the spatial and physical sense, an attitude to man and nature, antipodes in the emotional, mental, ethical and philosophical sense[14] Für Stażewski bedeutet «dazwischen»: unter, neben, in, zusammen, gemeinsam, und feindlich. «Between» ist nicht nur ein Ort und eine Reihe von binären Dingen, sondern auch eine Haltung. Für Stażewski handelt es sich um eine endgültige Behauptung von «between» – zwischen Ursache und Wirkung. Er wollte den Betrachter konzeptionell in den Raum seines Entwurfs projizieren. So wie er schrieb: «I will create fiction seen with the eyes, but expressing something deeper that cannot be seen – internal and hidden – whose mechanical indicator is the work of art. In this will be the intervention of thought, which disintegrates in consciousness and the subconscious.»[15] Daraufhin kann sich der unscharfe Raum seines Entwurfs auf ein Geheimnis beziehen – innerlich und verborgen, mit feindlichem «between». In den politischen Rahmenbedingungen der Volksrepublik Polen, die die staatliche Erlaubnis, den «Existenznachweis» «als» Kunst durch institutionelle Anbindung und Sanktionierung regelt,[16] ist eine Installation wie «9 Strahlen» durch politische Ansprüche und Interpretationsmuster gebunden, und doch öffnet gerade die abstrakte konzeptuelle Kunst ein Dazwischen, das «die verlorene Wirklichkeit» enthalten könnte.[17]

Stażewskis «9 Lichtstrahlen am Himmel» war in gewisser Weise die Erfüllung von Träumen eines perfekten konstruktivistischen Werkes der Zeit der Volksrepublik Polen. Es war zweifellos auch ein wahr gewordener Traum von der Massenrezeption und Wirkung eines avantgardistischen Kunstwerks. Es hat Errungenschaften vollständig, gigantisch, dynamisch verwirklicht – mit nationalem Stolz und militärischer Macht. In seinem Entwurf werden die scharfen Objekte durch die Unschärfe als Kunstmittel fokussiert. Daher ist ein Zwischenraum gebildet: zwischen den leuchteten und unleuchteten Teil, oder zwischen Klarheit und Unschärfe. Doch was für Gedanken Stażewskis, die in diesem unscharfen dunklen Hintergrund versteckt oder verborgen sind, kann man noch lesen?

 

Literaturverzeichnis

Adler, Ingrid. «Zur Situation der konstruktiv-konkreten Kunst in der DDR und nach der ,Wendeʻ», in: Abstraktion im Staatssozialismus. Feindsetzungen und Freiräume im Kunstsystem der DDR, Rehberg, Karl-Siegbert und Paul Kaiser, Hrsg., Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, 2003, S. 71-83.

Raum, Herman. «Die verlorene Wirklichkeit. Der Urgrund und die abstrakte Kunst», in: Abstraktion im Staatssozialismus. Feindsetzungen und Freiräume im Kunstsystem der DDR, Rehberg, Karl-Siegbert und Paul Kaiser, Hrsg., Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, 2003, S. 353-357.

Turowski, Andrzej. «From Zmijewski to Stażewski», in: Avant-garde in the Bloc. Fundacja Galerii Foksal,  Switek, Gabriela, Hrsg., Warschau: Fundacja Galerii Foksal, 2009, S. 404-417.

Kemp-Welch, Klara. «Articulating the ‘between’: Stażewski’s Critical Spaces», in: Avant-garde in the Bloc. Fundacja Galerii Foksal,  Switek, Gabriela, Hrsg., Warschau: Fundacja Galerii Foksal, 2009, S. 306-317.

Wesenberg, Angelika. «Unmittelbarkeit. Die Geburt der Moderne aus dem Geist des Skizzenhaften», in: Impressionismus – Expressionismus. Kunstwende, Ausst.-Kat., Berlin: Alte Nationalgalerie, 2015, 45-54.

 

Internetquellen:

Kossowska: Irena Kossowska, Henryk Stażewski, in: culture.pl. Artists (Dezember 2001), https://culture.pl/en/artist/henryk-stazewski (aufgerufen am 17.05.2020).

Sienkiewicz 2010: Karol Sienkiewicz, Henryk Stażewski. «9 promieni swiatla na niebie [9 Lichtstrahlen am Himmel]», in: sztuki wizualne [Bildende Kunst] (2020), https://culture.pl/pl/dzielo/henryk-stazewski-9-promieni-swiatla-na-niebie (aufgerufen am 03.04.2020).

 

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Stażewski, Henryk. 9 rayons de lumière dans le ciel, 1969. Entwurf. Broschüre  Galeria Foksal, Warschau. Quelle: Archiwum Galerii Foksal.

Abb. 2 : Holuka, Zdzisław. Henryk Stażewski, Kompozycja pionowa nieograniczona, Sympozjum Wrocław ’70 [Unbegrenzte vertikale Komposition, Symposium Wrocław ’70], 1970. Fotografie. Quelle: Muzeum Wirtualne, https://www.muzeumwirtualne.pl/zbiory/wizerunki//dtzsp/www/dtzsp_670.jpg (aufgerufen am 17.05.2020)

 

[1]   Sienkiewicz 2010, aufgerufen am 03.04.2020.
[2]   Kossowska 2001, aufgerufen am 17.05.2020.
[3]   Vgl. hierzu und zum folgenden Sienkiewicz 2010, aufgerufen am 03.04.2020.
[4]   Vgl. hierzu und zum folgenden Sienkiewicz 2010, aufgerufen am 03.04.2020.
[5]   Sienkiewicz 2010, aufgerufen am 03.04.2020.
[6]   Ebd.
[7]   Sienkiewicz 2010, aufgerufen am 03.04.2020.
[8]   Wesenberg 2015, S. 45.
[9]   Turowski 2009, S. 406.
[10]  Ebd.
[11]  Kemp-Welch 2009, S. 306-317.
[12]  Ebd., S. 308.
[13]  Vgl. hierzu und zum folgenden Kemp-Welch, 2009, S. 308, 314 & 316-317.
[14]  Kemp-Welch 2009, S. 314.
[15] Kemp-Welch 2009, S. 314.
[16] Adler 2003, S. 199; Riese 2003, S. 71-72, & S.74.
[17] Raum 2003, S. 353.