Krisen als Viren – virale Krisen

Text: Janis Huber

Wenn ontologische Fragen zu Kultur und Kommunität[1] im Zentrum eines privat oder öffentlich geführten Diskurses, eines Seminars oder Kolloquiums, einer Diskussion oder eines Gesprächs stehen, sich plötzlich jedoch nicht bloss die vom einzelnen Subjekt her gedachten, geografisch nahen Kulturen und Kommunitäten in einer epidemischen Krise befinden, sondern zugleich auch alle geografisch fernen, quasi die Summe globaler Kulturen und Kommunitäten, von einer Pandemie betroffen sind, stelle ich mir die Frage: Was für epistemologische Konsequenzen zieht dies nach sich? Sprich, was passiert, wenn man nicht mehr von der Krise her denken kann, sondern aus der Krise heraus denken muss. Ontologische Fragen zur Krise drängen sich damit in den Fokus. Klar scheint, dass sich Krisen in ihrem Sein, als epistemologisch hochpotente Szenarien festmachen lassen: Krisen (re-)strukturieren Diskurse und deren Wahrnehmung; Krisen schärfen das Bewusstsein genauso wie sie es trüben; Krisen stehen jeglichen Routinen, die bei der Bewältigung von (alltäglichen) Situationen essentiell sind, diametral entgegen; Krisen diversifizieren, differenzieren und polarisieren verschiedene Diskursstränge. Ich möchte in diesem Essay aus mehreren Blickwinkeln und mit verschiedenen Denker_innen (Victor Turner, Timothy Morton und Donna Haraway) über das Krisenhafte reflektieren. Folgende drei Postulate stelle ich dabei auf: (I) Die Krise existiert nur als Plural.[2] Wenn folgend also von der Krise im grammatikalischen Singular gesprochen wird, ist es gleich zu verstehen wie Krisen; (II) die Krise ist dialektisch und oszilliert zwischen Innen und Aussen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, wobei besonders das sichtbare Aussen krisenmitbestimmend wirkt, während das unsichtbar Innere im Subjektiv-Individuellen zu wirken scheint; (III) globale Krisen kennen keine Distanz, die sich zu ihnen aufbauen liessen – sie sind omnipräsent.

Blicken wir also aus dieser Krise heraus auf die gegenwärtige Situation, die global unter dem Diktum der Corona-Krise[3] steht: Folgender, performativer Aufruf ist besonders im medialen Diskurs[4] konsequent an verschiedenen Diskursoberflächen anzutreffen: Jetzt, mehr denn je, brauchen wir x. Dabei steht x hier für die Vielzahl von Forderungen, die dabei zur Aussprache kommen: Grenzschliessungen, Einführung eines Grundeinkommens; Rückbesinnung auf die Verfassung und den Rechtsstaat; Unterstützung der Kulturproduktion; Solidarität, Klimaschutz, Distanzierung zu Methoden des Überwachungsstaats etc. Genau an diesem Jetzt, mehr denn je, brauchen wir x lässt sich ablesen, dass die Corona-Krise als Krise nicht durch Singularität bestimmt ist, sondern sich in einem Netz, oder im Diskursgewimmel[5] zahlreicher Krisen ausbreitet. In diesem Netz entspinnen sich individuelle Krisen, kollektive Krisen, kulturelle Krisen, politische Krisen, etc. und wirken reziprok aufeinander. So lässt sich der Aufruf wie folgt ergänzen: Jetzt, mehr denn je, brauchen wir x, denn y befindet sich gleichsam in einer Krise. Das lässt vermuten: Die Krise existiert höchstens vom Individuum her gedacht oder zu analytischen Zwecken als Singular, denn in der Vielzahl von Kulturen und Kommunitäten ist die Krise immer pluralisiert, sich gegenseitig überlagernd, oder gar multiplizierend und steht in dem Sinne auch immer in einem dynamischen, reziproken Verhältnis mit anderen Krisen. Um diese ontologische Pluralität der (menschlichen) Krise verständlich zu machen, möchte ich folgend ein medial distribuiertes, politisch aktuelles Bild[6] aufführen, beschreiben und in der Krise kontextualisieren:

Bild: © Jahmal Cole Fighting for Humanity (2020)
Quelle: https://www.instagram.com/p/CA1UpqTFNQ4/

Der Schwarze[7] Demonstrant auf dem Bild  trägt eine Maske mit der Aufschrift I can’t breath. Er blickt – so meine Interpretation – mit Skepsis direkt in die Kamera, die eine Betrachter_innen-Situation und ein Blickkontakt durch die Kamera suggeriert. In diesem Bild vereinen sich (symbolisch und indexikalisch) drei ineinander verflochtene, sich überlagernde Krisen: namentlich (a) die individuelle Krise dieses Menschen, die ausgelöst wurde durch eine (b) ethnisch-kollektive Krise (namentlich die Black-Lives-Matter-Bewegung), mit der er pars pro toto zu solidarisieren scheint. Schliesslich findet diese ethnisch-kollektive Krise im ‘Gefäss’ einer (c) global-kollektiven Krise, der Corona-Pandemie, statt, die keinen Halt vor von Menschen gesetzten (geopolitischen) Grenzen jeder Art macht. Egal, ob einem Individuum soziale, politische oder kulturelle Privilegien zustehen oder nicht. Kurzum: Sie betrifft mehr oder minder die ganze Menschheit.[8] I can’t breath ist ein Zitat der eindringlichen letzten Hilferufe des Schwarzen US-amerikanischen Bürgers Georg Floyd, der vom weissen Polizisten Derek Chauvin gewaltsam auf den Boden gedrückt wurde und erstickte. Diese Gewalttat wurde auf Video aufgezeichnet: Die globale, biologische Viralität des Coronavirus wird damit von der digital-globalen Viralität dieses Videos überlagert. Gerade im digitalen Zeitalter lässt sich somit fragen, inwiefern Grenzen zwischen dem Individuellen, Kulturellen und global Kollektivem überhaupt noch aufrecht erhaltet werden können.

I can’t breath ist einerseits ein wiederholter (symbolisierter) Ausruf gegen die Ungerechtigkeit und den institutionellen, systematischen Rassismus, den Georg Floyd – wie bereits viele Schwarze Amerikaner_innen vor ihm – mit seinem Leben bezahlen musste. I can’t breath kann aber auch als tatsächlichen, am eigenen Körper erlebten sowie als mental-metaphorisierten Ausdruck der erstickenden Wirkung von Krisen generell und der Corona-Krise im Speziellen verstanden werden: (a) tatsächlich, weil die Mundschutzmasken für einzelne Individuen atemerschwerend wirken; (b) metaphorisch, weil Krisen wie die Bürgerrechtsbewegung oder die Corona-Krise im Individuellen sowie im Kollektiven als erstickend und klaustrophobisch empfunden werden können, quasi als Sinneskrise.

Diese Sinneskrise ist ihrer Omnipräsenz geschuldet. Eine Omnipräsenz, die aus verschiedenen Diskurssträngen hervorgeht und damit in den durch die Krisen mitbestimmten Gesamtdiskurs einzieht. Globale Krisen, wie die Corona-Krise, machen die Unmöglichkeit eines Entkommens allzu deutlich – man ist diesen Krisen gegenüber ohnmächtig, weil sie (geografische) Distanz und menschgemachte Grenzen ignorieren. Die menschliche Distanzlosigkeit zu gewissen Objekten ist ein Kernanliegen des Philosophen Timothy Morton: Am Beispiel einer anderen globalen Krise – der Klimakrise – beschreibt er seinen Begriff des Hyperobjekts. Ein Begriff, den ich hier auch auf globale Krisen im Generellen und die Corona-Krise im Speziellen anwenden möchte. Laut Morten (vgl. 2013: 5) kennen Hyperobjekte in der menschlichen Wahrnehmung kein Aussen, keine Metasprache, da wir gerade eben keine Distanz zu ihnen aufbauen können. Hyperobjekte sind, so Morton (vgl. 2013: 27ff.) viskos und haften an uns. Viren als krisenauslösende Faktoren liessen sich wohl kaum besser beschreiben: Wie die Hitze im Klimawandel bleiben Viren unsichtbar, haften an uns an und üben Gewalt auf den menschlichen Körper aus. Laut Morten (vgl. 2013: 28) sind Hyperobjekte uncanny[9]. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Eva Horn (vgl. 2017: 3) präzisiert dies in ihrer Lektüre von Morton und bezeichnet Hyperobjekt als ontologically uncanny entities, da sie sich unserer Wahrnehmung ständig entziehen und dennoch omnipräsent sind.[10]

Darin lässt sich für Krisen das bereits genannte Spannungsverhältnis der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit allzu deutlich erkennen. Das Coronavirus ist in seiner Aggressivität zum regelrechten Fremdkörper in unserer Gesellschaft geworden. Ein Fremdkörper jedoch, der für das menschliche Auge unsichtbar bleibt. Die Krise hat hier nicht die Indexikalität eines viral gewordenen Videos, wie jenes von der Gewalttat an Georg Floyd – eine durch Sichtbarkeit nackter, rassistischer Gewalt ausgelösten Krise. Doch würde es zu kurz greifen, der Corona-Krise oder der Klimakrise keinerlei Sichtbarkeit zu attestieren. Es bleibt daher weiter zu präzisieren: In diesen Fällen bleiben die Krisenauslöser (Viren oder Hitze) der menschlichen Wahrnehmung zwar verschlossen, ihre Folgen hingegen sind durchaus sichtbar, ihr Eindruck gewaltvoll: kranke oder gar tote Menschen, oder – im Falle der Hitze – abgeschmolzene Gletscher und abgebrannte Wälder (z.B. Australien 2020). Es bleibt also zu fragen, ob Krisen überhaupt zustande kämen, wenn sie nicht zumindest ansatzweise durch Sichtbarkeit (mit-)bestimmt sind. Es scheint daher wichtig, Krisen in Bezug auf Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit stets dialektisch zu denken.

Solchen Zonen des Dialektischen begegnen wir ebenfalls beim Ethnologen Victor Turner, der für die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit Krisen von hoher Relevanz ist. Das dialektische Haupanliegen von Turner ist das Verhältnis zwischen Struktur (=normative Gesellschaft) und Anti-Struktur (=reines Menschsein im gemeinschaftlichen Communitas), was er durch binäre Gegensatzpaare deutlich zu machen versucht (vgl. Turner 2005 [1969] / Bräunlein 2012: 54): etwa Schwellenzustand versus Statussystem, oder Communitas versus Struktur. Die Krise steht bei Turner in besonders engem Zusammenhang mit seiner Ritualtheorie, da durch Krisen (soziale) Brüche entstehen. Diese Ritualtheorie ist, nebst dem krisenreichen, historischen Kontext und all den sozialen Dramen[11], die er selbst beobachtet, im Wesentlichen geprägt (a) durch seine eigene (durch koloniale Strukturen möglich gemachte) Feldforschung in den 1950er-Jahren in Sambia; (b) durch seine Rezeption des Ethnologen Arnold van Gennep, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts (ebenso in einem kolonialen Kontext), in seinem Werk  Les rites des Passage[12] Passageriten – sprich Riten, die den sozialen Stand verändern – untersucht hat (vgl. Bräunlein 2012: 7 / 49f.). Von besonderem Interesse ist für Turner die mittlere Phase eines solchen Rituals, die liminale Phase: Sie beschreibt eine dialektische Zone des Dazwischen (vgl. 2012: 53). In Bezug auf den sozialen Stand, der mit einem Passageritual transformiert wird, bedeutet das: In der liminalen Phase ist man nicht mehr, aber auch noch nicht. Der Soziologe Justin Stagl beschreibt diesen Zustand mit einer Analogie zu Kühlräumen und ihren Doppeltüren: Denn dort muss die eintretende Person zuerst «die eine Tür, dann einen Zwischenbereich und schliesslich die andere Tür passieren, um herein oder heraus zu kommen» (Stagl 1983: 83 zitiert in Bräunlein 2012: 51).

Dieses Beispiel exemplifiziert zwar, was Turner mit liminal meint, lässt sich so aber kaum auf allgemeine und komplexe gesellschaftliche Realitäten applizieren. Anstatt deutliche Zäsuren scheinen mir Krisen vielmehr osmotisch in Zonen des kollektiv-gesellschaftlichen überzugehen und sich dialektisch wieder als subjektive Krisenerfahrungen zurück ins Individuelle zu diffusieren – in einem, wie bereits genannt, stets reziproken Prozess. Die Grenzen bleiben dabei stets opak. Genau in diesem Anliegen grenzt Turner das Liminale vom Liminoiden ab und löst sich damit zugleich von der Vorlage Van Genneps. Das Limonoide dient Turner zur Beschreibung ›komplexer‹ Gesellschaften (vgl. Bräunlein 2012: 60) – besonders deren kulturelle Ausprägungen wie Kunst und Unterhaltung – und scheint mir hier massgebend für das Verständnis der Pluralität von Krisen:

«[D]ie Ndembu [nehmen bei Turner] zwar einen prominenten Stellenwert ein, doch entscheidend ist hier der Brückenschlag hin zu Beispielen unterschiedlicher Bewegungen in Geschichte und Gegenwart […]. Rituelle Liminalität, behauptet Turner, kennt jede Gesellschaft.» (Bräunlein 2012: 58).  Insofern ist die ontologische Pluralität der Krise auch mitbestimmt durch eine kulturelle Pluralität. Die Hippie-Bewegung etwa, die Turner als Zeitzeuge beobachtet, dient ihm als Beispiel für Liminalität solch modernen, komplexen Gesellschaften, denn dort «bestehen Liminales und Liminoides […] in einer Art kulturellem Pluralismus gleichzeitig nebeneinander» (Bräunlein 2012: 60). Turner interessiert dabei durchaus auch die etymologische Homologie zwischen Ekstase und Existenz:

[E]xistieren heisst ausserhalb stehen. – d.h. ausserhalb der Totalität von Strukturpositionen, die man gewöhnlich in einem Sozialsystem einnimmt, stehen. Existieren heisst in Ekstase sein. Für die Hippies – wie für viele millenarische und ›enthusiastische‹ Bewegungen – ist die Ekstase der spontanen Communitas das Ziel menschlichen Strebens. (Turner 2005: 134f. [Kursivierung: J.H.] )

Diese spontane Communitas scheint auch einen Verlangen wiederzugeben, sich durch den Entwurf eines Aussen fern einer bestehenden Krise anzusiedeln zu können. Dies dürfte je nach Art und Expansion einer Krise gelingen, scheint allerdings bei omnipräsenten, globalen Krisen zum Scheitern verurteilt zu sein. Damit zementiert sich die zuvor aufgestellte These der Corona-Krise und Klimakrise als Hyperobjekte. Solche Krisen lassen sich lediglich durch eine eskapistische Haltung mental wegdenken oder leugnen – existieren bedeutet hier nie ausserhalb zu sein.

Blicken wir nun auf die für Turners essentielle[13], der Raum-Zeit-Matrix geschuldeten Prozessualität von Ritual, Krise, Liminalität, Communitas etc., ist es unabdingbar zu fragen: Wann beginnt eine Krise und wann endet sie? Wann beginnt spontane strukturlose Communitas und wann geht diese über in ideologische Communitas? Denn Turner ist klar, dass Strukturlosigkeit nur ein temporärer Zustand sein kann (vgl. Turner 2005: 129 / vgl. Bräunlein 2012: 60). Daran anschliessend bleibt des Weiteren zu fragen: Wer bestimmt den Anfang oder das Ende der Strukturlosigkeit, oder kurzum: Wer bestimmt die Krise? Denkt man die Krise vom Rechtsstaat und vom Rechtsphilosophen Carl Schmitt her, so würde die Krise durch Souveränität bestimmt. Denn «souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet» – so Schmitts (1996: 13) berühmtes Postulat. Tiere und andere Lebewesen und Elemente unseres Planeten sind demgemäss nicht souverän und können keine Krise ausrufen.

Diametral einem solchen Postulat entgegenzustehen scheint Donna Haraways Thesen im zweiten Kapitel ihrer Aufsatzsammlung Staying with the Trouble – Making Kin in the Chtulucene, das die Überschrift Tentacular Thinking trägt. Haraway denkt in diesem Kapitel selbst von der Krise[14] her – nämlich über das Leben in unseren zerstörten Landschaften – wobei die Bestimmung der Krise hier komplexer ausfallen dürfte. Denn Haraway verlangt den Menschen aus dem Zentrum zu rücken[15] und allen Wesen und Elementen der Erde agency[16] zuzusprechen (vgl. Haraway 2016: 49f.). Insofern liesse sich nach Haraway die Krise auch als menschliches Hirngespinst abtun, das mitunter durch die Macht der Sprache möglich wird. Worauf ich jedoch hier mit Haraways Lektüre hinaus möchte, ist, ihre Denkfigur des Tentakulären Denkens mit der Pluralität von Krisen in Verbindung setzen. Tentakulär bedeutet bei Haraway (vgl. 2016.: 43) die strikte Ablehnung jeglicher Form von Binarität (etwa solche, die bei Turner Prominenz haben), um einem komplex verwebten Netz Platz zu geben.[17] Die zuvor postulierte Pluralität der (menschlichen) Krise liesse sich mit Donna Haraway gesprochen auch wie folgt zugespitzt formulieren: Krisen sind tentakulär und verweben sich in ihrer Summe zu einem Netz. In diesem tentakulären Sein, wirkt die einzelne Krise stets als Kriseninkubator für andere (noch nicht aus dem Diskursgewimmel herauskristallisierte) Krisen. Die Linearität und Prozessualität von Krisen im Gefüge von Riten und Liminalitäten und damit gewissermassen auch im Gefüge einer (apokalyptischen) Teleologie, wie wir es noch bei Turner vorfinden, wird bei Haraway vergebens gesucht. Zentral sind für Haraway (vgl. 2016: 37ff.) dabei – und damit lassen sich wieder Verbindungen zu Turner herstellen – Storys und Storytelling, die weder nackte Fakten noch deren Falsifizierung hervorbringen.

Ich möchte den politisch-gesellschaftlichen Blick unserer Gegenwart hier nun verlassen und zuletzt die angestellten Überlegungen in zusammenführender Form über eine zentrale popkulturelle Figur denken: Nämlich H.R. Gigers Alien, das in Ridley Scotts gleichnamigen Film ikonisiert wurde. Der Rückgriff auf dieses historische Beispiel mag an dieser Stelle freilich verwundern. Der doch nicht unbeachtliche Zeit- und Gegenstandsprung ist hier deshalb auszuführen: Sowohl bei den hier zitierten Denker_innen Turner, Haraway[18] und Morton spielen fiktionale, künstlerische und kulturelle Ausprägungen, wie Film oder Theater, eine zentrale Rolle in ihrem Denken. Dem möchte ich hier Rechnung tragen und Scotts Alien (USA, 1979) als Metapher für die prototypische Krise lesen – im Speziellen als Metaphorisierung (1) der Liminalität, (2) der Pluralisierung und (3) des Hyperobjekts. Der isolierte Charakter des Handlungsschauplatzes – das Raumschiff Nostromo in den Weiten des Weltalls – bietet sich zu analytischen Zwecken besonders an, denn Alien verfährt sowohl in der Wahl des Handlungsschauplatzes als auch in der Story in einem Modus des Rituellen: Die Story beginnt mit dem Computer gesteuerten, künstlichen Aufwachen und endet mit dem Zurückversetzen der Protagonisten in diesen künstlichen Schlaf. Dazwischen entfaltet sich für die Figuren die Erfahrung einer Krise, in der die Routine und etablierte Ordnung durch das Erleben von Horror erschüttert wird. Es wird zum alleinigen Ziel für die Crew des Nostromo den Eindringling wieder auszustossen. Die Realisierung des der Figuren erfahrenen Horrors geschieht in einem, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, hochgradig ritualisierten Moment: dem gemeinsamen Mahl. Der Eindringling scheint durch seine vorübergehende Unsichtbarkeit überwindet und die Krise repariert. Das kurz aufblitzende Gefühl wiederhergestellter Ordnung wird sogleich durchbrochen: Aus dem Virus erwächst durch den menschlichen Körper das Alien in seiner autonomen Gestalt und dringt damit aus dem (unsichtbaren) Innen zurück ins Aussen und damit in die Sichtbarkeit.

(I) Das Alien ist eine Metaphorsierung des Unbestimmbaren, eines Nullpunkts: Die ontologische Instabilität des Aliens geht einher mit dessen Oszillation in verschiedenen Zonen der Unentscheidbarkeit. In dem Sinne lässt sich auch Turner zuvor aufgeführte Kategorie des Dazwischen auf das Alien applizieren. Das Alien ist metaphorisierte Liminialität, quasi ein Schwellenzustand in Reinform: (a) Es ist dem Menschen fremd, doch nicht komplett entfremdet, als dass es dadurch seine Unheimlichkeit verlieren könnte. (b) Es dringt wie Viren in den menschlichen Körper ein und braucht diesen als Wirt (wodurch auch eine Asymmetrie zum Wesen des Menschen entsteht). Die zuvor beschriebene Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Innen und Aussen sind im Alien und dessen Sein vereint. Die Krise beginnt in Alien im unsichtbaren Innen, im Körper des Menschen und drängt ins sichtbare Aussen. Das wird in Scotts Alien auch formalästhetisch überhöht. (a) Beispielsweise zu Beginn, als das Raumschiff auf dem fremden Planeten landet und das Signal der Videoübertragung und damit auch der Gaze der betrachtenden Person gestört wird. (b) Ebenso markant ist die Lichtgestaltung als Teil der Mise-en-Scène des Films: beinahe rastlos dynamisches Licht gleitet mit zunehmender Intensität über die Gesichter der Figuren, die Gestalt des Aliens und die Innenräume des Raumschiffs. Struktur und Form werden dabei destabilisiert und an die Grenze des Imaginären – an dem sich das Alien in seiner Wesensart ohnehin schon befindet – verlagert. Struktur und Form oszillieren dementsprechend zwischen Konstruktion und Dekonstruktion.

(II) Das Alien ist eine Metaphorisierung der ontologischen Pluralität der Krise: (a) es ist in seiner Physiologie tentkulär; (b) verbreitet sich über den menschlichen Körper viral und dringt später als autonome Gestalt wieder zurück in diesen ein; (c) das Alien entwickelt sich durch seine parasitären Metamorphosen zu einem Netz aus Aliens wodurch die Omnipräsenz der Krise langsam heranwächst, wie die Sequels der Originalverfilmung deutlich machen. Das Alien dringt tentakulär in alle Bereiche menschlichen Seins ein und fungiert als Inkubator zahlreicher Krisen.

(III) Das Alien ist eine Metaphorisierung der Krise als Hyperobjekt. Wie Morton es beschreibt, kann der Mensch zu Hyperobjekten keine Distanz aufbauen. Die Unmöglichkeit von Distanz in den unbestimmbaren Weiten des Weltalls erfahren alle Figuren in Alien im Raumschiff Nostromo: Das Alien übt im Körper und später auf den Körper nackte Gewalt aus. Um mit den Worten Eva Horns zu sprechen: Das Alien ist in seiner metamorphotischen Gestalt eine ontologically uncanny entity. Als solche Entität – so möchte ich ergänzen – korrespondiert sie automatisch mit dem Gedanken an die eigene Vergänglichkeit. Versteht man globale Krisen als Hyperobjekte, wären sie somit eng an den Gedanken der eigenen Vergänglichkeit geknüpft.

Ich komme zum Schluss: Krisen sind Fremde in unseren Kommunitäten, regelrechte Aliens, die in ihrer Omnipräsenz erstickend[19] wirken können und dennoch im gleichen Atemzug dafür sorgen, dass Communitas entstehen kann:

Vor allem in „liminalen“ Umbruchszeiten komplexer Gesellschaften gewinnen Communitas-geleitete Bewegungen an Einfluss und Anziehungskraft. Turner spricht von der Sonderform der Krisen- oder Katastrophen-Communitas oder der apokalyptischen Communitas. (Bräunlein 2012: 59f.)

Krisen scheinen also untrennbar zu unserem Mensch-Sein zu gehören. Das positive Potential von Krisen beschreibt Turner am Beispiel von Communitas und reinem Mensch-Sein, das erst durch Krisen entstehen kann. Krisen braucht es also auch, damit Überschreitungen habitualisierter Strukturen stattfinden können. Nur dadurch wird es (vom Ideal her gedacht) möglich, dass gesellschaftliche Krisen ihren Status als Aliens ablegen können und eine unideologische, spontane Communitas daraus entstehen kann. Tentakuläre Krisen werden also komplementiert durch einen tentakulären Widerstand verschiedener Kulturen und Kommunitäten. Insofern scheint auch die Unmöglichkeit des Distanzaufbaus zu globalen Krisen als Hyperobjekte produktives, konfrontatives Potential in sich zu beherbergen: In dem ich nicht entfliehen kann, werde ich – wie beispielsweise mit diesem Essay – zur Teilnahme am Diskurs aufgefordert und bin damit pars pro toto Teil des tentakulären Kollektivs. Oder anders formuliert: Die Konfrontation mit Krisen, ihr aktives Verlagern vom Unsichtbaren ins Sichtbare, bedeutet zugleich deren Bewältigung – zumindest ansatzweise. Dies scheint insofern essentiell, da vermutlich unter dem Diktum der Digitalisierung und der zunehmenden Globalisierung zukünftig globale Krisen zur neuen Krisen-Norm werden. Die Black-Lives-Matter-Bewegung, die mittlerweile ihre Fühler über die US-amerikanische Grenze streckt und die Corona-Krise, die eben keine Krise im asiatischen Raum geblieben ist, wie es von vielen spekuliert wurde, machen dies überdeutlich.

PS: Ich habe diesen Text als weisser Mensch und dementsprechend aus einer nicht direkt betroffenen Perspektive geschrieben. Diskriminierungsfreie Sprache ist mir wichtig. Sollte sich jemand durch ein Wort oder eine Formulierung ausgeschlossen oder diskriminiert fühlen, möchte ich diese Person bitten, sich zu melden.

 

Bibliografie

Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft­. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Bedorf, Thomas (2013): «Die ‚soziale Spanne‘: Von Heideggers Mitsein zur Sozialontologie Nancys». In: Fonfara, Dirk et al. (Hg.): Phänomenologische Forschungen. Hamburg: Meiner, S. 29–43.

Bräunlein, Peter J. (2012): Zur Aktualität von Victor W. Turner. Wiesbaden: Springer VS.

Haraway, Donna J. (2016): Staying with the Trouble – Making Kin in the Chtulucene. Durham / London: Duke University Press.

Jäger, Siegfried (2016): Kritische Diskursanalyse – eine Einführung. Münster: Unrast.

Kiening, Christian (2003): Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit. München: Wilhelm Fink.

Morton, Timothy (2013): Hyperobjects – Philisophy and Ecology after the End of the World. Minneapolis / London: University of Minnesota Press.

Schärer, Jamie; Haruna, Hadija (2013): Über Schwarze Menschen in Deutschland berichten. Online unter: http://isdonline.de/uber-schwarze-menschen-in-deutschland-berichten/ [Zugriff: 31.01.2021].

Schmitt, Carl (1993 [1922]): Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre der Souveränität. Berlin: Duncker & Humblot.

Turner, Victor (2005 [1969]). Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M. / New York: Campus.

 

 

[1] Den Begriff möchte ich hier als eine Vorform noch zu erreichender Communitas verstehen und konzeptionell so anlegen, dass in seinem irritierenden (verdeutschten) Klang ein reflektierendes Moment darüber auslöst wird.
[2] Dabei sei auch an Nancy zu denken, bei dem das Individuelle nur im Kollektiven existiert: «Nicht zuerst das Sein des Seienden und dann das Seiende selbst als Mit-ein-ander, sondern das Seiende – und alles Seiende – in seinem Sein als mit-ein ander seiend. Singulär plural: derart, daß eines jeden Singularität von seinem Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist, und weil tatsächlich und im allgemeinen Singularität von Pluralität nicht zu trennen ist. Auch hier handelt es sich nicht um eine zusätzliche Eigenschaft. Der Begriff des Singulären impliziert seine Singularisierung und folglich seine Unterscheidung von anderen Singularitäten […]. Das Singuläre ist von vornherein jeder Einzelne, folglich auch jeder mit und unter allen anderen. Das Singuläre ist ein Plural. […] Das Singuläre ist jedes Mal für das Ganze, auf seinem Platz und in seinem» (Nancy 1996 zitiert in Bedorf 2013: 38).
[3] Etymologisch gesehen, sind Krankheit und Krise eng miteinander verwandt: https://www.dwds.de/wb/Krise [Zugriff: 13.10. 2020].
[4] Mein Blick ist hier begrenzt durch den Konsum von Medien in den westlichen Breitengraden und durch Beiträge in englischer, französischer und vor allem deutscher Sprache.
[5] Ein Terminus, bei dem mich auf Siegfried Jäger (2016) stütze, der diesen zur Beschreibung des Netzes aus zahlreichen Diskurssträngen vorschlägt.
[6] Bild: © Jahmal Cole Fighting for Humanity (2020), Quelle: https://www.instagram.com/p/CA1UpqTFNQ4/
[7] Ich orientiere mich bei dieser Schreibweise an der gängigen Selbstbezeichnung, die eine von Rassismus betroffene gesellschaftliche Position verdeutlicht:  «Schwarz wird großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt, und keine reelle „Eigenschaft“, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist. So bedeutet Schwarz-sein in diesem Kontext nicht nur, pauschal einer „ethnischen Gruppe“ zugeordnet zu werden, sondern ist auch mit der Erfahrung verbunden, auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen zu werden.» (Schärer und Haruna 2013: o.S. / oder auch im Amnesty International Glossar für diskriminierungssensible Sprache: Online unter: https://www.amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuer-diskriminierungssensible-sprache [Zugriff: 16.10.2020]).
[8] Oder mit Ulrick Beck (1986: 48) gesprochen: «Not ist hierarchisch, Smog demokratisch.»
[9] Dieser Begriff liesse sich im Deutschen zwar mit unheimlich übersetzten, wobei ich meine, dass diese Übersetzung nicht im gleichen Masse wiedergibt was uncanny beschreibt, weshalb ich mich hier auf die Entlehnung aus dem Englischen stütze.
[10] Ein weiteres Beispiel, das sie nennt, wäre Radioaktivität.
[11] Turner beobachte in den ihm umgebenden Konflikte eine Theatralität und legt die Reflektion dessen im Begriff des sozialen Dramas bewusst an (vgl. Bräunlein 2012: 38).
[12] Das Werk wurde bereits 1909 publiziert, doch erst 1960 ins Englische übersetzt und durch Turner popularisiert (vgl. Bräunlein 2012: 51).
[13] Vgl. dazu auch Bräunlein 2012: 52.
[14] In diesem Anliegen überschneidet sich ihr Kernanliegen mit jenem von Timothy Morton.
[15] Wie für Morton ist der Klimawandel mit all seinen Folgen für den Planet Erde mit all seinen Ökosystemen auch zentral für Haraway. Sie distanziert sich ganz bewusst vom Begriff des Anthropozän, der das Zeitalter nach dem Holozän beschreiben soll. Das Denkmuster, den Menschen als Epizentrum alles Seins zu denken, möchte Haraway durchbrechen: «Surely such a transformative time on earth must not be named the Anthropocene […] I propose a name for an elsewhere and elsewhen that was, still is, and might yet be: the Chthulucene. I remember that tentacle comes from the Latin tentaculum, meaning “feeler,” and tentare, meaning “to feel” and “to try”; and I know that my leggy spider has many-armed allies. Myriad tentacles will be needed to tell the story of the Chthulucene» (Haraway 2016: 31).
[16] Ein Begriff, den ich hier von Bruno Latour – ein Autor, den Haraway auch zitiert – entlehne.
[17] Das Tentakuläre dient ihr zur Beschreibung der Chthuluzän, ihr Gegenbegriff zum Anthropozän, den sie aufgrund der Mensch zentrierten Perspektive ablehnt.
[18] Im Zusammenhang mit dem Alien ist hierbei auch an Haraways (feministisches) A Cyborg Manifesto (1985) zu denken.
[19] Dieses Bewusstsein über die eigene Vergänglichkeit – eine individuelle Krise – wurde besonders im Mittelalter und der frühen Neuzeit in der (Wand-)Malerei mit der Personifizierung des Todes, ein liminoides Phänomen im Falle des Totentanzes, bewältigt (vgl. Kiening 2003: 63). Als solche Personifizierung kann man das Alien auch lesen.