Antonin Artaud zur Kulturkrise

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand sich Europa in einer regelrechten Kulturkrise wieder: ein radikaler kultureller Wandel wälzte aufgrund der Industrialisierung im 19. Jahrhundert das Alltagsleben, die Arbeitswelt wie auch Wissenschaft und Kunst um. Wahrnehmungs- Denk- und Handlungsmuster wurden erschüttert. Dies führte dazu, dass sich völlig neue Verhaltensweisen  herausbildeten. Insbesondere das Theater der historischen Avantgardebewegungen (circa 1900 bis 1935) gestaltete die Wahrnehmung, Körper und Sprache sowie ihr Verhältnis zueinander in revolutionärer Weise um.[1]

Für Antonin Artaud bildete die Erfahrung dieser tiefgreifenden Kulturkrise den zentralen Hintergrund seines Lebens und seiner Arbeit. Er schloss beim Versuch, das Wesen des Theaters und seine Rolle im 20. Jahrhundert zu bestimmen, an eine pessimistische Diagnose seiner Zeit an. Mit dem «Theater der Grausamkeit» formulierte er nicht nur eine theoretische Position, sondern arbeitete auch in seinen Dramen, Inszenierungen und Bühnenexperimenten praktisch ein für das ganze 20. Jahrhundert konstitutives Theatermodell aus. [2]

[1] Vgl. Fischer-Lichte, Erika (Hg.): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Körper – Sprache, Tübingen; Basel: Franke 1995, S.1-7.

[2] Sugiera, Malgorzata: „Artaud und Witkiewicz. Zwei Theatermodelle des 20. Jahrhunderts“, in: Fischer-Lichte, Erika (Hg.in): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Körper – Sprache, Tübingen; Basel: Franke 1995, S. 369-371.

 

Das Theater und die Pest von Antonin Artaud 

In den Archiven der kleinen Stadt Cagliari auf Sardinien gibt es einen Bericht über eine erstaunliche historische Begebenheit.

Eines Nachts Ende April oder Anfang Mai 1720, etwa zwanzig Tage vor dem Eintreffen der Grand-Saint-Antoine in Marseille, deren Landung mit dem merkwürdigsten Pestausbruch zusam­menfiel, der die Annalen der Stadt anschwellen ließ, wurde Saint­-Remys, Vizekönig von Sardinien, den seine beschnittene Verant­wortlichkeit als Monarch vielleicht empfänglich für die bösartig­sten Viren gemacht hatte, von einem besonders finstern Traum heimgesucht: er sah sich als Pestkranker, sah, wie die Pest in seinem Zwergstaat wütete.

Unter der Einwirkung der Geißel gerät die Gesellschaft aus den Fugen. Die Ordnung bricht zusammen. Er wird Zeuge aller moralischen Entgleisungen, aller psychologischen Verirrungen, er vernimmt in sich das Rumoren seiner betäubten, in völligem Rück­gang befindlichen Säfte, die in einer schwindelerregenden stoff­lichen Auszehrung begriffen sind, die zähflüssig werden und sich allmählich in Kohle verwandeln. Ist es demnach schon zu spät, die Geißel abzuwenden? Obwohl er zerstört, obwohl er organisch ausgelöscht und zu Staub zerfallen ist und ausgeglüht bis ins Mark, weiß er doch, daß man im Traum nicht sterben kann, daß der Wille im Traum sogar ins Absurde umschlägt, selbst in die Ver­neinung dessen, was möglich ist, selbst in eine Art von Verwandlung des Trugbilds, aus dem man die Wahrheit neu erstehen läßt.

Er wacht auf. Alle diese Pestgerüchte, die umgehen, alle diese giftigen Ausdünstungen eines Virus aus dem Morgenland, er wird sie fernzuhalten wissen.

Ein seit einem Monat aus Beirut überfälliges Schiff, die Grand-­Saint-Antoine, bittet um Durchfahrterlaubnis und möchte lan­den. Da nun erteilt er die unvernünftige, von seiner Umgebung und vom Volk als wahnwitzig, absurd, töricht und despotisch angesehene Ordre. In aller Eile läßt er dem Schiff übermitteln, er hege den Verdacht, das Lotsenboot sowie einige Männer seien von der Seuche befallen, und gibt der Grand-Saint-Antoine den Befehl, sofort zu wenden und außerhalb der Stadt volle Segel zu setzen, sonst werde er sie durch seine Kanonen versenken las­sen. Der Krieg gegen die Pest. Der Autokrat war offen und ehrlich.

Es muß nebenbei bemerkt werden, daß dieser Traum einen besonders starken Einfluß auf ihn gehabt haben muß, beharrte er doch trotz des beißenden Spotts der Menge und der Skepsis sei­ner Umgebung auf seinen unmenschlichen Weisungen, wobei er sich nicht nur über das Recht der Leute, sondern über den aller-einfachsten Respekt vor dem Menschenleben und alle nationalen und internationalen Konventionen hinwegsetzte, die angesichts des Todes überholt sind.

Wie dem auch sei, das Schiff setzte seine Fahrt fort, legte in Livorno an und lief in die Bucht von Marseille ein, wo es Lande­erlaubnis erhielt.

Was mit seiner Ladung von Pestkranken geschah, ist von den städtischen Diensten in Marseille nicht überliefert worden. Da­gegen ist annähernd bekannt, was aus den Matrosen der Be­satzung wurde; denn sie erlagen nicht alle der Pest und verstreu­ten sich in verschiedene Himmelsrichtungen.

Die Pest in Marseille wurde nicht von der Grand-Saint-Antoine eingeschleppt. Sie war bereits schon da. Und zwar in einer Periode besonders heftiger Virulenz. Aber es war gelungen, die lokalen Ansteckungsherde einzudämmen.

Die von der Grand-Saint-Antoine eingeschleppte Pest war die orientalische Pest, der ursprüngliche Virus, und seit seinem Auf­treten und seiner Verbreitung in der Stadt datiert das allgemeine Aufflammen der Epidemie und ihre besondere Schauerlichkeit.

Das regt zu einigen Gedanken an.

Diese Pest, die offenbar einen Virus reaktivierte, vermochte durch ihr bloßes Vorhandensein spürbar gleichbleibende Ver­heerungen anzurichten; von der ganzen Besatzung nämlich war der Kapitän als einziger nicht von der Pest angesteckt, andrer­seits scheinen die pestkranken Neuankömmlinge überhaupt nicht in direkten Kontakt mit den anderen Pestkranken gekommen zu sein, da man diese in abgeriegelten Stadtvierteln zusammen­pferchte. Die Grand-Saint-Antoine, die in Rufweite an Cagliari auf Sardinien vorüberfährt, schleppt dort nicht die Pest ein, der Vizekönig jedoch empfängt im Traum bestimmte Ausstrahlun­gen von ihr; denn es ist nicht zu leugnen, daß zwischen der Pest und ihm eine wägbare, obgleich subtile Übertragung hergestellt wird, und es wäre zu leicht, wollte man in der Übertragung einer solchen Krankheit eine Ansteckung durch bloße Berührung sehen. Doch die Beziehungen zwischen Saint-Remys und der Pest, die immerhin stark genug sind, um in seinem Traum als Bilder sich freizusetzen, sind nicht stark genug, um die Krankheit in ihm zum Ausbruch kommen zu lassen.

Wie dem auch sei, als die Stadt Cagliari kurze Zeit später erfährt, daß das durch den despotischen Willen des Fürsten, des auf übernatürliche Weise aufgeklärten Fürsten von seinen Küsten vertriebene Schiff die große Epidemie von Marseille ausgelöst hat, nimmt sie diese Begebenheit in ihre Archive auf, wo sie jedermann nachlesen kann.

 

Der Marseiller Pest von 1720 verdanken wir die einzigen sogenannten klinischen Aufzeichnungen über die Geißel, die wir besitzen.

Doch darf man sich fragen, ob die von den Marseiller Ärzten beschriebene Pest wohl dieselbe war wie die von Florenz aus dem Jahre 1347, der das Dekameron entstammt. Die Geschichte, die heiligen Bücher, darunter die Bibel, sowie manche alten medizinischen Traktate beschreiben vom Äußeren her alle möglichen Arten von Pest; aber sie scheinen viel eher den niederschmettern­den und phantastischen Eindruck festgehalten zu haben, den diese in den Gemütern zurückließen, als ihre Krankheitsmerkmale selber. Und wahrscheinlich hatten sie recht damit. Denn die Medizin sähe sich wohl erheblichen Schwierigkeiten gegenüber, wollte sie einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Virus (wo fern das Wort Virus etwas anderes ist als ein bloßer verbaler Kunstgriff), dem Perikles vor Syrakus erlag, und demjenigen konstatieren, der in der von Hippokrates beschriebenen Pest auf­taucht und den neuere medizinische Abhandlungen für keine Pest im eigentlichen Sinne ansehen. Für diese Abhandlungen gibt es keine echte Pest außer der ägyptischen, die aus Friedhöfen steigt, die dank des fallenden Nilwassers entdeckt worden sind. Die Bibel und Herodot melden übereinstimmend das blitzschnelle Auf tauchen einer Pest, welche in einer einzigen Nacht die 180 000 Mann der assyrischen Streitmacht hinmähte und so das ägypti­sche Reich vor dem Untergang bewahrte. Wenn dies auf Tat­sachen beruht, müßte man die Geißel als direktes Werkzeug oder als Verkörperung einer vernunftbegabten Macht ansehen, die in enger Beziehung steht zu dem, was wir als Schicksalsfügung be­zeichnen.

Und dies mit oder ohne das Heer von Ratten, das in jener Nacht über die assyrischen Truppen herfiel und innerhalb weni­ger Stunden Sack und Pack zernagte. Diese Begebenheit ist mit der Seuche vergleichbar, die im Jahre 660 vor Christi Geburt in der heiligen Stadt Mekao in Japan anläßlich eines bloßen Regie­rungswechsels ausbrach.

Auch die Pest in der Provence vom Jahre 1502, die Nostrada­mus Gelegenheit bot, zum erstenmal seine Heilkräfte zur Anwen­dung zu bringen, traf auf politischer Ebene mit den tiefgreifendsten Umwälzungen zusammen – dem Sturz oder Tod von Königen, dem schränkt, um sie vorhersehen zu können, und nicht verderbt genug, um sold1e Auswirkungen tatsächlich herbeizuwünschen. Wie sich die Historiker oder die Medizin auch über die Pest irren mögen, ich glaube, man kann sich einig werden über die Vor­stellung einer Krankheit, die eine Art psychische Wesenheit wäre und nicht verursacht durch einen Virus. Wenn man alle Fälle von Pestansteckungen, welche die Geschichte oder die Memoiren uns vorsetzen, einer genauen Untersuchung unterziehen wollte, würde man schwerlich einen einzigen wirklich erwiesenen Fall von An­steckung durch Berührung feststellen können. Das von Boccaccio angeführte Beispiel von den Schweinen, die eingegangen seien, weil sie Laken beschnupperten, in die Pestkranke eingewickelt worden waren, beweist wohl kaum etwas anderes als eine Art von geheimnisvoller Affinität zwischen Schweinefleisch und dem Wesen der Pest, was noch genau zu untersuchen wäre.

Da es keine Vorstellung einer richtigen Krankheitsursache gibt, mag der Geist einstweilen Formen gelten lassen, mit deren Hilfe er gewisse Phänomene zu charakterisieren vermag. Es hat den Anschein, als könne der Geist folgende Beschreibung der Pest gelten lassen.

Vor allem physischen oder psychischen, nur allzu oft charak­terisierten Unwohlsein überziehen rote Flecken den Körper, die der Kranke erst dann plötzlich bemerkt, wenn sie ins Schwarze umschlagen. Er hat keine Zeit, darüber zu erschrecken, da fängt sein Kopf schon an zu brodeln, wächst durch sein Gewicht ins Riesenhafte, und er stürzt. Nun bemächtigt sich seiner eine fürch­terliche Müdigkeit, die Müdigkeit einer zentralen magnetischen Saugwirkung, seiner in zwei Teile gespaltenen, von ihrer Ver­nichtung angezogenen Moleküle. Es kommt ihm so vor, als galop­pierten seine erschrocknen, verwirrten, gehetzten Säfte durch sei­nen Körper. Sein Magen hebt sich, das Innere seines Bauches scheint durch die Zahnkanäle quellen zu wollen. Sein Puls, der bald sich verlangsamt, bis er zum Schatten wird, zur bloßen Mög­lichkeit eines Pulses, und bald dahingaloppiert, gehorcht dem Brodeln seines inneren Fiebers, der rieselnden Verwirrung seines Geistes. Dieser Puls, der so überstürzt schlägt wie sein Herz, der heftig, füllig; dröhnend wird; dieses rote, entzündete, dann glasige Auge; diese riesige, dicke Zunge, die hechelt und anfangs weiß, dann rot, dann schwarz ist und gleichsam kohlehaltig, ris­sig: alles kündet ein organisches Gewitter ohnegleichen. Bald suchen die Säfte, durchfurcht wie Erdreich vom Blitz, wie ein Vulkan von unterirdischen Wettern, nach einem äußeren Aus­gang. Inmitten der Flecken bilden sich glühendere Punkte, rings um diese Punkte schwillt die Haut zu Brandblasen an wie Luft­blasen unter einer Lavaoberfläche, und diese Blasen sind von Ringen umgeben, deren letzter, vergleichbar dem Saturnring um das weißglühende Gestirn, die äußerste Grenze einer Pestbeule anzeigt.

Von ihnen wird der Körper durchfurcht. Aber wie Vulkane bestimmte Punkte auf der Erde bevorzugen, so bevorzugen auch die Pestbeulen bestimmte Stellen auf der menschlichen Körper­oberfläche. Zwei oder drei Fingerbreit von der Leiste entfernt, unter den Achseln, in den wichtigen Gegenden, wo die arbeiten­den Drüsen getreulich ihre Aufgaben erfüllen, treten Pestbeulen auf, durch die der Organismus sich entweder seines inneren Eiters oder aber seines Lebens entledigt. Ein heftiger, an einer Stelle konzentrierter Aufruhr zeigt meistens an, daß das innere Leben nichts von seiner Kraft eingebüßt hat und daß ein Nachlassen des Leidens, ja seine Heilung möglich ist. Gleich der kalten Wut ist die Pest am schlimmsten, die ihre Merkmale nicht augenschein­lich werden läßt.

Der geöffnete Leichnam des Pestkranken weist keine Schädi­gungen auf. Die der Filtrierung der schweren, trägen Abfallpro­dukte des Körpers dienende Gallenblase ist zum Platzen voll und strotzt von einer schwarzen, klebrigen Flüssigkeit, die wie eine ganz neue Substanz aussieht. Auch das Blut aus Arterien und Venen ist schwarz und dickflüssig. Der Körper ist steinhart. Auf den Magenwänden scheinen unzählige Blutquellen erwacht zu sein. Alles deutet auf eine fundamentale Störung der gesamten Sekretion. Aber es gibt keine stoffliche Einbuße oder Zerstörung wie bei der Lepra oder der Syphilis. Selbst die Därme, in denen sich die blutigsten Auflösungserscheinungen abspielen, in denen die Stoffe einen unerhörten Grad von Verwesung und Versteine­rung erlangen, zeigen keine organischen Veränderungen. Die Gallenblase, aus der man den hart gewordenen Eiter, wie bei be­ stimmten Menschenopfern, beinahe mit einem langen, spitzen Messer, einem harten, glasigen Instrument aus Obsidian heraus­holen muß die Gallenblase ist hypertroph und stellenweise brüchig geworden, aber sie ist intakt, kein Teilchen fehlt, keine Schädigung ist erkennbar, nichts von ihrer Stofflichkeit abhan­den gekommen.

In bestimmten Fällen jedoch werden Lungen und Hirn geschä­digt; sie werden schwarz, und Gangräne tritt ein. Die Lunge erweicht, unregelmäßig durchschnitten, in Späne irgendeiner un­bekannten schwarzen Masse zerfallend; das Hirn zerlaufen, geglättet, pulverisiert, zu Mulm zerfallen, zu einer Art von schwarzem Kohlenstaub zersetzt.

Daraus ergeben sich notwendigerweise zwei wichtige Beobach­tungen, erstens, daß die Syndrome der Pest ohne Gangräne von Hirn und Lungen vollständig sind und der Pestkranke auch ohne Vereiterung irgendeines Organs sein Teil hat. Ohne diese etwa zu unterschätzen, verlangt der Organismus nicht das Vorhandensein einer örtlich begrenzten physischen Gangräne, um sich zum Ster­ben zu entschließen.

Die zweite Beobachtung ist die, daß die beiden einzigen wirk­lich von der Pest befallenen und von ihr geschädigten Organe, das Hirn und die Lunge, in direkter Abhängigkeit von Bewußt­sein und Willen stehen. Man kann sich daran hindern zu atmen oder zu denken, man kann die Atmung beschleunigen, ihr einen beliebigen Rhythmus geben, sie willentlich bewußt machen oder unbewußt halten, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Arten zu atmen herstellen; der unwillkürlichen, die unter direktem Be­ fehl des großen Sympathikus steht, und der anderen, die den be­wußtgewordenen Hirnreflexen gehorcht.

Auch das eigne Denken kann man beschleunigen, verlangsamen und rhythmisch gliedern. Man kann das unbewußte Spiel des Geistes reglementieren. Die Filtrierung der Säfte durch die Leber, die Blutverteilung im Organismus durch Herz und Arterien kann man ebensowenig lenken, wie man die Verdauung kontrollieren, die Aussonderung von Stoffen in den Därmen anhalten oder be­schleunigen kann. Die Pest scheint daher in Gegenden aufzutreten, sie scheint eine Vorliebe für Körpergegenden, für alle Stellen im physischen Raum zu haben, wo der menschliche Wille, das Be­wußtsein, das Denken nah sind und im Begriff, in Erscheinung zu treten.

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts isoliert ein französischer Arzt namens Yersin, der Pestleichen aus Indochina untersucht, eine jener rundschädligen, kurzschwänzigen Kaul­quappen, die nur unter dem Mikroskop nachweisbar sind, und nennt sie Pestbazillus. Meiner Ansicht nach ist das lediglich ein stoffliches Element, ein kleineres, unendlich viel kleineres, das auf irgendeiner Entwicklungsstufe des Virus zum Vorschein kommt, aber die Pest wird mir dadurch mitnichten erklärt. Mir wäre lie­ber, wenn mir dieser Arzt sagen wollte, warum jede große Pest, mit oder ohne Virus, fünf Monate lang dauert, worauf ihre Viru­lenz abklingt, und wie es der türkische Gesandte, der Ende 1720 durchs Languedoc reiste, fertigbrachte, eine Art von Linie, die von Nizza über Avignon und Toulouse bis nach Bordeaux ging, als äußerste Grenze der geographischen Verbreitung der Geißel anzugeben. Worin ihm der Lauf der Dinge recht gab.

 

Aus alledem ergibt sich die geistige Physiognomie einer Krank­heit, deren Gesetzmäßigkeiten man wissenschaftlich nicht fest­legen kann und deren geographischen Ursprung bestimmen zu wollen idiotisch wäre, weil die ägyptische Pest nicht die orien­talische ist, die wiederum nicht die von Hippokrates ist, die wie­derum nicht die von Syrakus ist, die wiederum nicht die von Florenz ist, die schwarze Pest nämlich, der das mittelalterliche Europa seine fünfzig Millionen Tote verdankt. Niemand kann sagen, warum die Pest den Feigling erwischt, der sich aus dem Staube macht, und den Wüstling verschont, der sich an Leichen befriedigt. Warum Evakuierung, Keuschheit und Einsamkeit machtlos sind wider das Befallenwerden von der Geißel, und war­um ein Grüppchen von Lüstlingen, das sich auf dem lande ab­schließt wie Boccaccio mit zwei wohlversorgten Gefährten und sieben lasterhaften Frömmlerinnen, in aller Ruhe die heißen Tage abwarten kann, während derer sich die Pest zurückzieht; und warum auf einem nahegelegenen Schloß, das in eine kriegerische Zitadelle verwandelt worden ist, mit einer Absperrkette von Be­waffneten ringsherum, die jeden Zutritt verwehren, die Pest die gesamte Garnison und die Besitzer in Leichname verwandelt und die Bewaffneten verschont, die als einzige der Ansteckung aus­gesetzt sind. Wer wird eine Erklärung dafür finden, daß die von Mohammed Ali gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bei einem Wiederaufleben der ägyptischen Pest mit Hilfe großer Truppen­verstärkungen aufgestellten Sperrgürtel sich beim Schutz von Klö­stern, Schulen, Gefängnissen und Palästen wirksam erwiesen; und daß zahlreicheKrankheitsherde einer Pest, die alle Merkmale der orientalischen Pest aufwies, plötzlich im mittelalterlichen Europa aufflammen konnten, und zwar in Gegenden, die mit dem Orient überhaupt nicht in Verbindung standen.

Aus diesen Seltsamkeiten, diesen Geheimnissen, diesen Wider­sprüchen und Wesenszügen gilt es die geistige Physiognomie einer Krankheit zu bilden, die Organismus und Leben aushöhlt bis zur Zerreißung und bis zum Krampf, wie ein Schmerz, der seine Wege und Reichtümer in allen Bereichen der Sensibilität in dem Maße vervielfacht, in dem er an Stärke zunimmt und sich vertieft.

Aus dieser geistigen Freiheit, mit der sich die Pest auch ohne Ratten, Bazillen und Kontakte verbreitet, kann man jedoch das unumschränkte, düstere Spiel eines Spektakulums herleiten, das ich nun zu analysieren versuchen werde.

Wenn die Pest in einem Gemeinwesen herrscht, gerät die Ord­nung aus den Fugen, gibt es keine städtischen Dienste mehr, keine Armee, keine Polizei, keine Verwaltung; Scheiterhaufen flammen auf, die Toten zu verbrennen, wie gerade Hände da sind, die mit anpacken. Jede Familie will ihren eignen haben. Dann werden Holz, Platz und Feuer spärlicher, rings um die Scheiterhaufen kämpfen ganze Familien miteinander, bald herrsche allgemeine Flucht, weil es zu viele Leichen gibt. Schon sind die Straßen mit Toten überfüllt, sind versperrt von ihren schwankenden Pyrami­den, welche die Tiere an allen Ecken benagen. Ihr Gestank steigt himmelan wie eine Flamme. Ganze Straßenzüge werden von auf­gestapelten Toten blockiert. Da öffnen sich die Häuser, und Pest­kranke im Delirium, den Kopf voll schauderhafter Visionen, strö­men heulend durch die Straßen. Der Schmerz, der in ihren Eingeweiden wühlt, der in ihrem ganzen Organismus rollt, macht sich im Geist durch Anfälle frei. Andere Pestkranke ohne Beulen, ohne Schmerz, ohne Delirium und bösartige Blutflecke, die sich stolz im Spiegel betrachten und vor Gesundheit zu strotzen schei­nen, stürzen tot zu Boden, das Rasierbecken in der Hand und noch voller Verachtung für ihre Leidensgefährten.

Über dickflüssige, übelriechende Blutbäche von der Farbe der Angst und des Opiums, die Leichen fortschwemmen, stelzen selt­same, wachsbekleidete Figuren mit ellenlangen Nasen und Glas­augen; sie gehen auf einer Art von japanischen Schuhen aus zwei Lagen von dünnen Holzplatten, deren waagrechte sohlenförmig ist, während die senkrechte sie vom ansteckenden Straßenkot iso­liert, und psalmodieren unsinnige Litaneien, deren Zauberkraft: sie trotz alledem der Feuersglut in den Rachen wirft. Diese Dummköpfe von Ärzten beweisen nur ihre Angst und ihren kin­dischen Geist.

Die Hefe des Volkes, anscheinend immun geworden durch ihre wahnwitzige Gier, dringt in die offenstehenden Häuser ein und legt Hand auf Reichtümer, die zu gewinnen, wie sie wohl selber spürt, ohne Nutzen und Wert ist. Und hier nun setzt das Theater ein. Das Theater, das heißt die unmittelbare Willkür, die zu Akten ohne Nutzen und Gewinn für die Aktualität treibt.

Die letzten überlebenden geraten außer sich. Der Sohn, bis­lang gehorsam und tugendhaft, tötet seinen Vater; der Kontinent treibt sodomitische Unzucht mit seinem Nächsten. Der Laster­hafte wird rein. Der Geizhals wirft sein Gold mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Der Kriegsheld steckt die Stadt an, für deren Rettung er sich einst aufgeopfert hat. Der eitle Geck putzt sich heraus und spaziert durch die Beinhäuser. Weder die Vorstellung der Straflosigkeit noch die des nahen Todes motivieren hinrei­chend so willkürlich absurde Handlungsweisen bei Leuten, die nicht daran glaubten, daß der Tod wirklich ein Ende setzen könne. Und wie soll man diesen erotischen Fieberausbruch bei ge­heilten Pestkranken erklären, die, anstatt :zu fliehen, an Ort .und Stelle bleiben und Sterbenden, ja Toten, die halb zerquetscht un­ter Haufen von Leichen liegen, wie der Zufall sie gebettet hat, eine verwerfliche Wollust entreißen.

Doch wenn es einer höheren Geißel bedarf, um diese frenetische Willkür zum Vorschein kommen zu lassen, und wenn diese Geißel Pest heißt, so könnte man vielleicht untersuchen, was diese Will­kür für unsre Gesamtpersönlichkeit bedeutet. Der Zustand des Pestkranken, der ohne Substanzzerstörung stirbt, mit allen Stig­mata eines unumschränkten, beinahe abstrakten Leidens an sich, ist eins mit dem Zustand des Schauspielers, den seine Gefühle aus­loten bis zum Grund, den sie aufwühlen ohne Gewinn für die Wirklichkeit. Das ganze körperliche Aussehen des Schauspielers wie des Pestkranken zeigt, daß das Leben auf den Paroxysmus reagiert hat, und dennoch ist nichts geschehen.

Zwischen dem Pestkranken, der schreiend dahinjagt in der Ver­folgung seiner Vorstellungen, und dem Schauspieler in Verfol­gung seiner Sensibilität, zwischen dem Lebendigen, der sich Figu­ren erschafft, auf die er sonst niemals verfallen wäre und denen er inmitten eines Publikums von Leichen und rasenden Irren Wirklichkeit verleiht, und dem Dichter, der ganz unangebracht Figuren erfindet und sie einem gleichermaßen trägen oder rasen­den Publikum überantwortet, gibt es noch andere Parallelen, die über die einzigen Wahrheiten Rechenschaft ablegen, die zählen, und die Wirkung des Theaters wie die der Pest auf die Ebene einer echten Epidemie erheben.

Dort, wo die Bilder der Pest in Verbindung mit einem aus­geprägten körperlichen Verfallszustand gleichsam die letzten Ausbrüche einer erlöschenden geistigen Kraft sind, sind die Bilder der Poesie auf dem Theater eine geistige Kraft, die ihre Flugbahn zwar im sinnlich Erfaßbaren beginnt, aber auf die Wirklichkeit verzichten kann. Ist der Schauspieler erst einmal in Raserei ge­raten so bedarf er unendlich mehr der Tugend, um kein Verbre­chen zu begehen, als der Mörder Mut nötig hat, um das seinige durchzuführen, und hier, in ihrer Willkür, zeigt sich die Wirkung eines Gefühls auf dem Theater als etwas unendlich viel Gültigeres als die eines verwirklichten Gefühls.

Angesichts der Raserei des Mörders, die sich erschöpft, bleibt die Raserei des tragischen Schauspielers in einem reinen, geschlossenen Bereich. Die Raserei des Mörders hat eine Tat vollführt, sie entlädt sich und verliert den Kontakt zu der Kraft, die sie inspiriert, sie aber fortan nicht mehr speisen wird. Sie hat Gestalt an­genommen, die des Schauspielers, der sich in dem Maße verleug­net, in dem sie sich freimacht und in der Universalität aufgeht.

Läßt man dieses geistige Bild der Pest nun einmal gelten, so wird man in den auf gewühlten Gemütszuständen des Pestkran­ken gleichsam die fest gewordene, stoffliche Seite einer Unord­nung sehen, die, auf andren Ebenen, den Konflikten, den Kämp­fen, Katastrophen und Niederlagen entspricht, die die Begeben­heiten für uns mit sich bringen. Und wie es nicht unmöglich ist, daß die ungenutzte Verzweiflung und die Schreie eines Geistes­gestörten in einem Irrenhaus infolge einer Art von Umkehrbar­keit der Gefühle und Bilder schuld sind an der Pest, so kann man wohl auch gelten lassen, daß die äußeren Begebenheiten, die poli­tischen Konflikte, die Naturkatastrophen, die Ordnung der Revo­lutionen und die Unordnung des Krieges, beim Übergang auf die Ebene des Theaters sich in der Sensibilität dessen, der ihnen zu­schaut, mit der Gewalt einer Epidemie entladen.

Im Gottesstaat bestätigt Augustinus diese Ähnlichkeit der Wir­kung bei der Pest, die tötet, ohne die Organe zu zerstören, und dem Theater, das, ohne zu töten, im Geiste nicht nur eines Indi­viduums, sondern eines ganzen Volkes die geheimnisvollsten Ver­änderungen hervorruft.

«Wissen sollt ihr, die ihr es noch nicht wißt«, sagte er, »daß diese Bühnenspiele, Schaustellungen von Schändlichkeiten, nicht auf Veranlassung menschlicher Laster, sondern auf Befehl eurer Götter in Rom eingeführt worden sind. Vernünftiger wäre es, dem Scipio göttliche Ehren zu erweisen als solchen Göttern; waren doch diese gewiß nicht ihres Oberpriesters wert! …

Um die Pest zu besänftigen, die den Leibern verderblich war, forderten eure Götter diese Bühnenspiele zu ihren Ehren; euer Oberpriester jedoch, um der Pest der Seelen vorzubeugen, wider­setzt sich der Aufstellung der Bühne. Wenn ihr nun noch einen Funken Einsicht habt und die Seele höher einschätzt als den Leib, so wählt, wer eure Anbetung verdienen soll; denn die List schlimmer Geister, da sie voraussah, daß die Ansteckung der Körper ohnehin ein Ende fände, ergriff die willkommene Gelegenheit, eine noch viel gefährlichere Geißel herbeizuführen, die nicht die Leiber, wohl aber die Sitten befällt. Wahrlich, derart ist die Ver­blendung, derart die von den Schaustellungen in den Seelen be­wirkte Verderbnis, daß letzthin noch jene, die von dieser finstren Leidenschaft besessen sind und, kaum der Plünderung Roms ent­ronnen, ihre Zuflucht in Karthago gefunden hatten, tagtäglich im Theater den Possenreißern um die Wette Beifall brüllten.«

Genaue Gründe für diese ansteckende Raserei zu geben, wäre unnütz. Ebensogut könnte man Gründe dafür suchen, warum der nervliche Organismus nach einer gewissen Zeit sich die feinsten musikalischen Schwingungen zu eigen macht, bis er durch sie eine Art von dauerhafter Veränderung erfährt. Wichtig vor allem ist das Zugeständnis, daß das theatralische Spiel wie die Pest eine Raserei ist und daß es ansteckend wirkt.

Der Geist glaubt, was er sieht, und tut, was er glaubt: dies ist das Geheimnis der Faszination. Und Augustinus bezweifelt in seinem Text keinen Augenblick lang die Realität dieser Faszi­nation.

Dennoch gilt es Bedingungen wiederzufinden, um im Geist ein Schauspiel entstehen zu lassen, das ihn fasziniert: und das ist nicht bloß eine Kunstangelegenheit.

Wenn nämlich das Theater wie die Pest ist, so nicht nur des­halb, weil es auf beträchtliche Kollektive einwirkt und sie in glei­chem Sinne von Grund auf umwälzt. Im Theater wie in der Pest steckt etwas zugleich Siegreiches und Rächendes. Man spürt sehr wohl, daß der spontane Aufruhr, den die Pest entfesselt, wo sie vorübergeht, nichts andres ist als eine ungeheure Liquidation.

Ein so völliger gesellschaftlicher Zusammenbruch, eine solche organische Unordnung, diese Überschwemmung durch Laster, diese Art von totalem Exorzismus, der die Seele bedrängt und bis zum äußersten treibt, zeigt das Eintreten eines Zustandes an, der andrerseits eine äußerste Macht darstellt und in dem sich auf dra­stische Weise alle Naturgewalten genau in dem Augenblick wie­der einfinden, in dem die Natur etwas Wesentliches vollbringen will.

Die Pest benutzt schlummernde Bilder, eine latent vorhandene Unordnung und treibt sie plötzlich bis zu den äußersten Gebär­den; und auch das Theater benutzt Gebärden und treibt sie bis zum äußersten: wie die Pest stellt es die Kette wieder her zwi­schen dem, was ist, und dem, was nicht ist, zwischen der dem Möglichen innewohnenden Kraft und dem, was in der verwirk­lichten Natur existiert. f’.s findet wieder zu der Vorstellung von Figuren und Typen-Symbolen, die wie plötzlich eintretende Stille, wie Orgelpunkte, Blutstockungen, Säftereizungen, entzündliche Ausbrüche von Bildern in unsern unverhofft erwachten Köpfen wirken; es stellt alle in uns schlummernden Konflikte mitsamt den ihnen innewohnenden Kräften wieder her und verleiht die­ sen Kräften Namen, die wir als Symbole begrüßen: und hier nun spielt sich vor unsern Augen ein Kampf von Symbolen ab, die übereinander hergefallen sind in einem unmöglichen Getrampel; denn Theater kann es nur von dem Augenblick an geben, in dem tatsächlich das Unmögliche beginnt und in dem die Poesie, die sich auf der Bühne ereignet, verwirklichte Symbole speist und überhitzt.

Diese Symbole, die das Zeichen reifer, doch bislang geknech­teter Kräfte sind, kommen in Form von unglaublichen Bildern zum Durchbruch, und diese geben Handlungen Bürger-und Da­seinsrecht, die ihrer Natur nach gesellschaftsfeindlich sind.

Ein wirkliches Theaterstück stört die Ruhe der Sinne auf, setzt das komprimierte Unbewußte frei, treibt zu einer Art virtuellen Revolte, die übrigens nur dann ihren ganzen Preis wert sein kann, wenn sie virtuell bleibt und.den versammelten Kollektiven eine heroische Haltung auferlegt.

e So sehen schwierige wir in unFords Annabella zu unsrer größten Bestürzung, wie ein geschlagenes Wesen, sobald sich der Vorhang hebt, den unverschämten Anspruch auf Inzest vertritt und zu seiner Ver­kündung und Rechtfertigung mit allem Nachdruck seine Jugend­lichkeit und seine Bewußtheit geltend macht.

Keinen Augenblick ist es wankelmütig, keine Minute lang zö­gert es; und zeigt auf diese Weise, wie wenig alle Schranken be­deuten, die ihm in den Weg gelegt werden können. Noch im Ver­brechen beweist es Heroismus, und diesen Heroismus stellt es verwegen zur Schau. Alles treibt es in diese Richtung vorwärts, alles macht es überschwenglich, weder Himmel noch Erde kümmern es einzig und allein die Macht seiner konvulsivischen Leidenschaft, der die ebenso die rebellische, ebenso heroische Leidenschaft Annabellas entspricht.

»Nicht aus Reue weine ich«, sagt sie, ,«sondern aus Angst, nicht ans Ziel meiner Leidenschaft zu gelangen.« Alle beide heu­cheln und fälschen und lügen sie um ihrer übermenschlichen Lei­denschaft willen, die die Gesetze eindämmen und schikanieren, die sie aber über die Gesetze erheben werden.

Rache um Rache, Verbrechen um Verbrechen. Gerade wenn wir sie bedroht, umstellt, verloren glauben, wenn wir sie wie Opfer beklagen möchten, geben sie zu erkennen, daß sie drauf und dran sind, es dem Schicksal Drohung für Drohung und Schlag für Schlag heimzuzahlen.

Wir begleiten sie beide von Exzeß zu Exzeß, von Forderung zu Forderung. Annabella wird gefangengenommen, des Ehe­bruchs, des Inzests überführt, mit Beleidigungen überschüttet, mit Füßen getreten, an den Haaren geschleift, und groß ist unsre Be­stürzung darüber, daß sie nicht etwa nach einer Ausflucht sucht, sondern ihren Henker sogar noch herausfordert und in einer Art von hartnäckigem Heroismus in Gesang ausbricht. Das ist der Gipfel der Revolte, ist unaufhörliche, exemplarische Liebe, die uns, uns Zuschauer vor Angst keuchen lässt bei der Vorstellung niemand und nichts könne sie je zur Besinnung bringen.

Wenn man nach einem Exempel für die absolute Freiheit in der Revolte sucht, so liefert uns Fords Annabella dieses dichte­rische Exempel, verschwistert mit dem Bild der absoluten Gefahr.

Und wenn wir uns auf dem Höhepunkt des Grauens, des Blu­tes, der verhöhnten Gesetze wähnen, kurzum auf dem Höhe­punkt der Poesie selber, die von der Revolte geheiligt wird, so sehen wir uns gezwungen, sogar noch weiter zu gehen, bis in einen Taumel, den nichts zur Besinnung bringt.

Doch zu guter Letzt, sagen wir uns, kommt die Rache, kommt der Tod für so viel Verwegenheit, für eine so unwiderrufliche Missetat.

Aber nein. Giovanni, der Liebende, den ein großer, begeisterter Dichter mit seiner Eingebung erfüllt, wird sich über die Rache, über das Verbrechen erheben durch eine Art unbeschreiblichen, leidenschaftlichen Verbrechens, über die Drohung, über das Grauen durch ein noch größeres Grauen, das zugleich die Ge­setze, die Moral und jene zerrüttet, welche die Kühnheit besitzen und sich zu Richtern aufwerfen.

Eine geschickte Falle wird ihm gestellt, ein großes Festmahl gerichtet. Unter den Gästen sind heimlich Häscher und Schläger, die sich auf ein gegebenes Zeichen auf ihn stürzen werden. Doch dieser umstellte, verlorene Held, den die Liebe beflügelt, wird es nicht zulassen, daß jemand über diese Liebe den Stab bricht.

Ihr wollt meiner Liebe an Kopf und Kragen, scheint er zu sa­gen, ich aber werde euch diese Liebe mitten ins Gesicht schleudern, daß euch das Blut dieser Liebe überschwemmt, zu der ihr euch nicht zu erheben vermögt.

Und er tötet seine Geliebte und reißt ihr das Herz aus, als wolle er sich weiden an ihm inmitten eines Festmahls, bei dem die Gäste vielleicht ihn selbst zu verzehren hofften.

Und bevor er umgebracht wird, tötet er noch seinen Neben­buhler, den Gemahl seiner Schwester, der sich zwischen diese Liebe und ihn zu stellen wagte; er bringt ihn um in einem letzten Kampf, der wie ein letztes Aufflammen seines eignen Todes­kampfes ist.

Wie die Pest ist also auch das Theater ein mächtiger Anruf von Kräften, die den Geist durch das Exempel wieder an den Ur­sprung seiner eigenen Konflikte zurückführen. Und das leiden­schaftliche Exempel, das Ford gibt, ist nichts anderes – das spürt man wohl – als ein Symbol für eine noch grandiosere, essentielle Unternehmung.

Die Schrecken verbreitende Erscheinung des Bösen, die in den eleusinischen Mysterien in reiner Form gegeben war, die wirklich offenbart wurde, entspricht der schwarzen Zeit bestimmter anti­ker Tragödien, die jedes echte Theater wiederfinden muß.

Wenn das wesentliche Theater wie die Pest ist, so nicht deshalb, weil es ansteckend wirkt, sondern weil es wie die Pest die Offen­barung, die Herausstellung, das Hervorbrechen einer latenten Tiefenschicht an Grausamkeit bedeutet, durch die sich in einem Einzelwesen oder in einem ganzen Volk alle perversen Möglich­keiten des Geistes lokalisieren.

Wie die Pest ist es die Zeit des Bösen, der Triumph der schwar­zen Mächte, die eine noch unergründlichere Macht speist bis zur völligen Auslöschung.

Wie in der Pest herrscht in ihm eine Art von seltsamer Sonne, ein Licht von anormaler Stärke, in dem das Schwierige und sogar das Unmögliche mit einem Male zu unserm normalen Lebens­element zu werden scheinen. Fords Annabella steht, wie jedes vollgültige Theater, unter dem Glanz dieser seltsamen Sonne. Sie gleicht der Freiheit der Pest, in der der Sterbende mehr und mehr seine Persönlichkeit aufbläht, in der der Lebende in gleichem Maße zu einem grandiosen und überspannten Wesen wird.

Man kann jetzt sagen, daß alle wahre Freiheit schwarz ist und unausbleiblich mit der Freiheit des Geschlechts verschmilzt, die ebenfalls schwarz ist, ohne daß man eigentlich wüßte warum. Denn seit langem schon ist der platonische Eros, der Zeugungs­geist, die Lebensfreiheit, unter der düstren Robe der Libido ver­schwunden, die mit allem gleichgesetzt wird, was es an Schmutzi­gem, an Gemeinem, an Niederträchtigem in der Lebenswirklich­keit gibt und sich mit natürlicher, unreiner Energie, mit stets erneuter Kraft ins Leben stürzt.

Und deshalb sind alle großen Mythen schwarz, deshalb sind alle die großartigen Fabeln, die den Menschen berichten von der ersten Trennung der Geschlechter und dem ersten Gemetzel von Wesenheiten, die in der Schöpfung auftauchen, nur in einer At­mosphäre von Gemetzel, Folterung und vergossenem Blut vor­stellbar.

Wie die Pest ist das Theater ein Abbild dieses Gemetzels, die­ser unerläßlichen Trennung. Es löst Konflikte, es macht Kräfte frei, es bringt Möglichkeiten zur Auslösung, und wenn diese Möglichkeiten und diese Kräfte, diese Mächte schwarz sind, so ist das nicht die Schuld der Pest oder des Theaters, sondern des Lebens.

Wir sehen nicht, daß das Leben, so wie es ist und wie man es uns zurechtgemacht hat, viel Anlaß zur Überschwenglichkeit bietet. Es hat den Anschein, als leere sich durch die Pest und auf kollektiver Basis, ein gigantischer Abszeß, der sowohl geistig wie gesellschaftlich ist; und wie die Pest ist auch das Theater zur kollektiven Entleerung von Abszessen da.

Es kann sein, daß das Gift des Theaters den gesellschaftlichen Körper zur Auflösung bringt, wenn es in ihn gelangt, wie Augu­stinus sagt, aber dann tut es dies- nach Art der Pest, nach Art einer rächenden Geißel, einer heilsamen Epidemie, in der gläu­bige Zeitalter den Finger Gottes sehen wollten und die nichts andres darstellt als die Anwendung eines Naturgesetzes, wo jede Gebärde durch eine andere Gebärde und jede Wirkung durch ihre Gegenwirkung aufgehoben wird.

Wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit dem Tod oder der Heilung endet. Und die Pest ist ein höheres Leiden, weil sie eine vollständige Krise ist, nach der nichts übrig bleibt als der Tod oder eine Läuterung ohne Maß. So ist auch das Theater ein Leiden, denn es stellt das höchste Gleichgewicht dar, das nicht ohne Zerstörung erreichbar ist. Es lädt den Geist zu einer Raserei ein, die zu einer Steigerung seiner Energien führt; und schließlich kann man sehen, daß vom menschlichen Standpunkt aus die Wirkung des Theaters wie die der Pest wohltuend ist; denn in­dem sie die Menschen dazu bringt, sich zu sehen, so wie sie sind, läßt sie die Maske fallen, deckt sie die Lüge, die Schwäche, die Niedrigkeit, die Heuchelei auf; sie schüttelt die erstickende Träg­heit der Materie, die sogar der klarsten Gegebenheiten der Sinne sich bemächtigt; und indem sie den Kollektiven ihre düstre Macht, ihre verborgene Stärke offenbart, fordert sie sie auf, angesichts des Verhängnisses eine überlegene, heroische Haltung einzuneh­men, zu der sie ohne sie niemals gefunden hätten.

Und nun erhebt sich die Frage, ob sich auf dieser Welt, die dahinschlittert und sich selbst umbringt, ohne daß sie es merkt, eine Zelle von Menschen finden wird, die imstande sind, diese höhere Vorstellung vom Theater durchzusetzen, die uns allen die natürliche und magische Entsprechung der Dogmen wieder­geben wird, an die wir nicht mehr glauben.

Antonin Artaud: Das Theater und die Pest, in Ders. : Das Theater und sein Double, Frankfurt am Main 1969. Aus dem Französischen von Gerd Henniger.