15 Minuten dauert die Sequenz, die in der Oper «Der Mordfall Halit Yozgat» immer und immer wieder wiederholt wird. Die Frage «Was ist passiert?» markiert deren Ende. Danach stellen die sieben Schauspieler*innen und Sänger*innen des Opern- und Schauspielensembles Hannover den Tathergang in veränderter Rollenbesetzung erneut nach.
Als Ausgangslage diente Komponist und Regisseur Ben Frost die 2017 an der documenta 14 ausgestellte Simulation 77sqm_9:26min des Forschungsteams Forensic Architecture. Diese rekonstruierten nicht nur den Mord an Halit Yozgat, der am 6. April 2006 in einem InternetCafé in Kassel durch zwei gezielte Kopfschüsse ermordet wurde, sondern stellten auch mehrere Unstimmigkeiten fest in den Zeugenaussagen von Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, der sich zum Tatzeitpunkt vor Ort befand, aber behauptet, weder den Mord noch den Toten bemerkt zu haben.
Der Tathergang zum Mord an dem 21-jährigen Halit Yozgat wurde bis heute nicht aufgeklärt. Ben Frost geht in seinem multiperspektiven Reenactment einen Schritt weiter als Forensic Architecture: In der gut zweistündigen Oper stellt er verschiedene Perspektiven nebeneinander. In einer Art Laborsituation wird so untersucht, was zum Tatzeitpunkt passiert ist und was die einzelnen Protagonist*innen gedacht und gesagt haben könnten.
Mitten im Probenprozess musste die Arbeit an der Inszenierung wegen des Lockdowns im Frühling 2020 ausgesetzt werden. Komponist und Regisseur Ben Frost entschied sich deshalb, zusammen mit Visual Artist Richard Mosse und den Künstler und Kameramann Trevor Tweeten, einen Film über das Projekt und die wiederaufgenommene Probenarbeit unter Corona-Bedingungen zu drehen.
Über die Rolle des Reenactment im kollektiven Gedächtnis, über diverse Mediatisierungsprozesse im postpandemischen Theater sowie über die Unfertigkeit der Kunst haben wir mit Fabienne Liptay, Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich, diskutiert.