Der gemeinschaftliche Theatertraum in Covid-19-Zeiten

Text: Louise Décaillet

Die Pandemie des Covid-19 trifft im Theaterbetrieb einen besonders sensiblen Nerv. Zur Begrenzung der Virusausbreitung wurden weltweit von Regierungen Lockdowns und Versammlungsverbote verhängt. Somit wird die Kulturproduktion zur Verlagerung in den digitalen Raum bzw. in die private Sphäre ihres Publikums gezwungen. Das Versammlungsverbot wiederum gehört gewiss zu den politischen Massnahmen, die das Zusammenspiel von Körperpolitik und der Schwächung von demokratischen Strukturen flagrant machen: Dadurch werden nicht nur die sozialen Kontakte erheblich reduziert, sondern auch der Spielraum für das Formulieren politischer Forderungen etwa durch Kundgebungen. Die Unmöglichkeit, sich physisch zu versammeln, legt als solche auch die gemeinsame Praxis der performativen Künste, der sogenannten „arts vivants“, lahm. Sie schliesst auch die Theater als öffentliche Institutionen, nämlich als Orte, wo sich das heterogene Kollektiv des Publikums mit sich selbst konfrontiert und potentiell zum „aktiven Körper einer Gemeinschaft“[1] werden könnte. Es ist tatsächlich dessen Möglichkeit, ein Publikum zu schaffen und zu adressieren, die das Theater zu einem Ort macht, der immer an der Vision einer Gemeinschaft beteiligt ist.[2] Dem Ende des 20. Jahrhunderts schreibenden Theaterwissenschaftler Herbert Blau galt das Publikum auch als soziales Ideal einer Gemeinschaft, deren Ungleichheiten und Unterschiede das Theater auslösche, nämlich als Fantasie der Verschmelzung des Individuums mit dem Kollektiv, während das Theater indes nur durch Repräsentation und Projektion, nämlich durch Trennung – zwischen Publikum und Bühne, Zuschauer*in und Akteur*in oder, so Blaus  psychoanalytischer Ansatz, wahrnehmendem Subjekt und begehrtem Objekt – existieren kann.[3] Das Publikum, schrieb Blau in The Audience (1990), verkörpere in sich selbst den „gemeinschaftlichen Traum“ (communal dream)[4] des Theaters.

Von ihrem Publikum entleert setzen die Theater meistens den digitalen Raum als zweite Öffentlichkeit ein, wo vielfältiges Material wie Texte, Videos oder Archivaufnahmen bereitgestellt werden und wo die Künstler*innen experimentelle Theaterstrategien entwickeln. In Zeiten der Pandemie zeugen letztere von den Bemühungen, dem Versammlungsverbot entgegenzuwirken, indem Publikum und Gemeinschaft anhand neuer Werkzeuge und Codes verhandelt werden. Die Anpassung von Aufführungen an digitale Formate stellt dennoch die Theaterschaffenden vor beträchtliche Herausforderungen: Von der physischen Bühne zum bodenlosen Cyberspace, vom Publikum zur unsichtbaren Internet-Crowd ist der „gemeinschaftliche Theatertraum“ neu zu erfinden, und dies unter technisch-ästhetischen Bedingungen, die das Theater eher wie ein alter Alptraum anmuten lässt. Die unten beschriebenen Experimente initiieren allerdings eine anstehende Reflexion über Theater im digitalen Zeitalter – eine Reflexion, die von der Pandemie nur katalysiert wird. Aber über die jetzige Krisensituation hinaus mögen die Auswirkungen des Versammlungsverbot dazu ermuntern, das „Gemeinsame“ des Theaters bzw. der Kunst in einer digitalisierten Kultur zu reflektieren.

 

Übertragungsstrategien

1. Von der Black Box zum World Wide Web-Fenster

Der Ausbruch der Pandemie ging bekanntlich nicht mit dem plötzlichen Einbruch des Digitalen in unsere alltägliche Realität einher, sondern lediglich mit einer erheblichen Ausweitung dessen Mittel. Für die meisten Theaterinstitutionen scheint diese zur Anerkennung einer parallelen Bühne zu führen, nämlich jener des nun unmöglich wegzudenkenden digitalen Raums. Wenn dieser auch durch Sichtbarkeit und Inszenierung von Inhalten sowie Performativität funktioniert, schafft er zugleich in sich selbst ein Umfeld, das im eindeutigen Gegensatz zum europäischen Theaterdispositiv bzw. der Guckkastenbühne steht. In der Tat sind Immaterialität, grenzlose Vernetzung und Bilder- und Informationsfluss kaum imstande, die im Europa traditionellen und antagonistischen Grundhaltungen[5] von Zuschauer*innen, nämlich das Eintauchen oder die kritische Distanz zu begünstigen: Vielmehr bedingen sie die stetige dérive [6] bzw. die Surf- und Navigationsbewegung von atomisierten und entkörperten Internet-users. Daher gilt zahlreichen Theaterschaffenden und -theoretiker*innen die Vorstellung eines „Theaters im digitalen Raum“ als dystopisches Szenario schlechthin. Einer entmaterialisierten und entkörperten Kultur, die exponentiell und zufällig instant access zu Bildern und Informationen verspricht, mass etwa Herbert Blau am Anfang des 21. Jahrhunderts eine geradezu obszöne Dimension bei: Ihre „scheinbare Transparenz von unmittelbarer Sichtbarkeit“ erweise sich, weil sie nichts unbelichtet lasse, als Nicht-Bühne bzw. Nicht-Szene (no-scene) und produziere somit Obszönität (obscene).[7] Wenn Blau also die Auflösung der Bühne, also der Theatermöglichkeit überhaupt, mit einer überschüssigen Sichtbarkeit verknüpfte, erkannte er dennoch die globale Dominanz des Internets und der zunehmenden Digitalisierung. Über eine „Gesellschaft des Spektakels“ hinaus redete er von einer “random-access society[8], die das physische Dispositiv des Theaters überholt bzw. “obsolet” macht und die Körperversammlung, die mit ihm herkömmlich einhergeht, zur Explosion bringt.

Eine erste Reaktion auf diesen von der Pandemie durchgesetzten Bühnenwechsel schlug der Hausregisseur am Zürcher Schauspielhaus Christopher Rüping vor. Einen Mitschnitt von seiner 2017 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführten Inszenierung von Trommeln in der Nacht organisierte er online als „Livestream“.[9] Daneben bot das auch als „Community-Viewing“ bezeichnete Format, das in einem bestimmten Zeitslot „live“ ging, den „Zuschauer*innen“ die Möglichkeit, mit dem Regisseur anhand eines Online-Chats während der Ausstrahlung zu plaudern.

Der Rückgriff der Theater auf Begriffe des Internets spiegelt ihre Bemühungen wider, die herkömmlichen Eigenschaften einer Aufführung in digitale Formate zu übersetzen. Während „Livestreams“ auf den Anspruch hinweisen, eine ereignishafte Erfahrung anzubieten, sollte der „Online-Chat“ deren gemeinschaftlichen Charakter gewährleisten. In den zwei Begriffen wird der Versuch ersichtlich, nicht nur die Flüchtigkeit eines Theaterabends hervorzurufen, sondern auch die zerstreuten, einzelnen Internet-Zuschauer*innen zu versammeln. Dass der Livestream mit einem parallelen Chat versehen wird, erscheint insofern nicht als unbedeutend, als dies den Eindruck erweckt, aus den einzelnen Zuschauer*innen, die vor dem Bildschirm ihrer Laptops sitzen, ein Publikum zu konstituieren. Das „Community-Viewing“ bezeugt somit die kollektive Tätigkeit des Zuschauens, das sich vom privaten Streamen von Serien, Filme und Videos dadurch auszeichne, dass es als solches eine Sichtbarkeit gewinnt und zur aktiven Beteiligung einlädt. In dieser Hinsicht erstellt der Chat eine digitale Plattform der Begegnung und des Austauschs zwischen Zuschauer*innen und, indem er dem Livestream-Mitschnitt den Charakter einer Ersatzöffentlichkeit verleiht, diese einem digitalen Publikum ähneln lässt. Das europäische Theaterdispositiv als demokratische Institution bzw. als vermeintliche res publica, auf deren antike Wurzeln so oft gepocht wird, werde somit in den entkörperten und netzförmigen Raum des World Wide Web übertragen. 

Aber gerade solche Übertragungsstrategien unterstreichen, inwiefern das Versammlungsverbot die Begegnung zwischen Theater und Digitalisierung etwas erzwungen und beispiellos macht: Wenn der Online-Chat auf den ersten Blick als spielerisches Experiment und belangloser Ersatz erscheint, deckt der Versuch eines „Community-Viewing“ wohl die Kluft zwischen zwei Welten auf, nämlich des traditionellen Publikums als Körperkollektiv, das vermeintlich „leiblich präsent“ sei,[10] und der virtuellen Internet-Crowd in ihrer „unsichtbaren Immanenz“.[11] Zugleich offenbaren idiomatische Ausdrücke wie „Livestream“ und „Community-Viewing“ auch und vor allem, wie das Internet und die Digitalisierung ohne Weiteres imstande sind, Formate zur Verfügung zu stellen, die ähnlichen Ansprüchen wie dem Theater genügen, dessen Einfluss auf unsere sozialen Beziehungen und ästhetischen Erfahrungen nicht mehr zu beweisen ist. Dies bedeutet nicht zwingend, dass digitale Technologien imstande sind, die Stellung von Aufführungen in der Kulturökonomie abzulösen – Techniken des Kinos und des Fernsehens haben schon seit Jahrzehnten ihren Platz auf den Theaterbühnen, auch wenn ihre jeweiligen Entstehungen den Theatertod mehrfach prophezeiten. Aber es ist gerade eine der wichtigsten Auswirkungen der heutigen Pandemie, dass sie einen Freiraum für dystopisch anmutende Vorstellungen bietet, und dies auch bezüglich der Theaterbühnen und ihrem Verhältnis zum Digitalen, dessen kultureller Dominanz diese nun gegenüberstehen. Im Herzen der gegenwärtigen Krise können sich die Theater sicherlich Dystopien des technologischen Determinismus vorstellen – oder sich dafür entscheiden, die eigenen konstituierenden Utopien und Träume zu überdenken.

 

2. Von der Körperversammlung zur Users-Crowd

Wenn der Online-Chat ein digitales „Publikum“ zu bilden scheint, wird dessen politisches Potential von Christopher Rüping in seinen aktuellen Inszenierungen für den digitalen Raum, welche zum „Zuhauspielhaus“-Programm des Zürcher Theaters Schauspielhaus gehören, weiter erforscht. In seinem Dekalog-Projekt greift der Regisseur nämlich auf Krzysztof Kieślowskis gleichnamigen Episodenfilm aus den 80er Jahren zurück, in der sich jeder Film mit einem der zehn Gebote Gottes philosophisch auseinandersetzte. Nach der Vorlage Kieślowskis erarbeitete Christopher Rüping wöchentlich zwei Folgen in Form von Livestream-Aufführungen: Von einer Kamera gefilmt tritt jeweils ein*e Schauspieler*in für einen Monolog auf die Bühne des Schauspielhauses, bei dem die Zuschauer*innen via Abstimmungen den je nach den gewählten Optionen improvisierten Ablauf der Aufführung bestimmen. Die sechste Folge etwa, die dem Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ entspricht bzw. von den Themen der Liebe und der Leidenschaft handelt, inszenierte einen Mann, der eine Frau mithilfe der Kamera ihres Laptops geheim beobachtet und sich in sie verliebt hat. Das Leben der Frau wird von einem der auf der verfilmten Theaterbühne stehenden Monitoren gezeigt und von dem Mann kommentiert, indem er sich an die Zuschauer*innen wendet und diese so in seine voyeuristische Faszination einbezieht. Diese Situation wird aber rasch unterbrochen, als der Schauspieler danach fragt, ob er ihr mitteilen soll, dass sie beobachtet wird. Darüber stimmen die Zuschauer*innen positiv ab und werden in der Folgezeit ständig nach ihren Meinungen gefragt; beispielsweise danach, ob er ihr in seiner Nachricht ein Kompliment machen oder ihr seine Liebe kundtun sollte. Der Austausch mit der Frau mündet in eine konfrontative Begegnung, in der die Frau die Bühne betritt und Fragen an die Kamera stellt, deren Antwortoptionen jeweils von den die Rolle des Mannes einnehmenden Zuschauer*innen abgestimmt werden: Auf diese Weise simuliert die Szene ein Online-Date zwischen der Frau und den Zuschauer*innen, das durch den Willen des Publikums kollektiv mitgesteuert wird. So beruht das Prinzip des Formats auf der Interaktion und der effektiven Beteiligung des unsichtbaren Publikums, das sich am Anfang und am Ende in einem Online-Chat treffen kann. Galten Kieślowski die christlichen Gebote als Anlass zur Hinterfragung von philosophischen Themen, nimmt Rüpings Dekalog diese Themen wieder auf und delegiert gleichsam den Zuschauer*innen Urteile und Entscheidungen, um Situationen gemeinsam mitzugestalten.

Die systematischen Abstimmungen spielen auch mit den neuen Bedingungen eines digitalen Theaterformats, indem sie die zu „Theaterusers“[12] gemachten Zuschauer*innen zu einer regen Beteiligung ermutigen. Angesichts der angebotenen Optionen können die einzelnen Zuschauer*innen in der Tat zwischen ihrer spielerischen Neugier, nämlich ihrer abgelösten Schaulust, und ihrer einfühlenden Identifikation mit den Protagonist*innen wählen. Dieses von den jeweiligen Abstimmungen subtil aufgeworfene Dilemma gewann bei der sechsten Folge eine besondere Brisanz, da es hier um den Versuch eines Mannes geht, sich einer begehrten Frau zu nähern: Weil dabei die Motive von Voyeurismus und potentieller Belästigung mitschwangen, wiesen manchmal gewisse Abstimmungsresultate darauf hin, ob der Wunsch, die Grenzen des Spiels und der Schauspieler*innen zu testen, Vorrang vor den moralischen Werten eines Post-#Metoo-Publikums hatte oder umgekehrt – im Übrigen wurde der Rückgriff auf „Geschlechterklischees“ im abschliessenden Chat von mehreren Stimmen kritisiert. Aber die individuellen Entscheidungen, welche die Stellung des Zuschauer*innen-Seins durchaus problematisierten, unterliegen einem Mehrheitsprinzip, welches der Stream-Aufführung den Charakter einer öffentlichen Versammlung verleiht: Aus den einzelnen anonymisierten users bzw. aus der Crowd wird ein Publikum gebildet, das die Konsequenzen des eigenen Mehrheitswillens live abschätzen kann. In dieser Hinsicht nimmt Rüpings Projekt eines „Theaters im digitalen Raum“[13] Züge einer Art „Forumtheater“[14] an, nämlich knüpft es zumindest an die Vision eines Theaters als Ort an, wo sich das Publikum mit sich selbst als Kollektiv konfrontiert, das heisst als potentielle politische Gemeinschaft. Nichtsdestotrotz greift zugleich das Format des Dekalog auf digitale Werkzeuge zurück, deren ursprünglicher Kontext nichts mit den sozialen Ansprüchen des politischen Theaters oder der partizipatorischen Kunst[15] zu tun hat: Vielmehr erinnert die Stream-Aufführung an Videospiele oder interaktive Filme, nämlich an kulturindustrielle Formate, die die unmittelbare Beteiligung statt das Zuschauen propagieren. Gleichzeitig handelt die sechste Folge „Du sollst nicht ehebrechen“ von menschlichen Begegnungen und Beziehungen, die stets durch digitale Technologien vermittelt werden, sei es durch soziale Netzwerke, Instant Messaging, Webcam, Dating Apps oder einfach durch die ständige Möglichkeit, mit anderen Menschen bzw. users auf globaler Ebene in Kontakt bzw. online zu sein und mit ihnen tatsächlich „instant“ und „live“ zu leben – bis zu dem Punkt, ihnen private, ja intime Entscheidungen und Erfahrungen zu delegieren. Der Einsatz der Publikumsbeteiligung wird nicht nur von der Theaterbühne in den digital-interaktiven Raum übertragen: Vielmehr offenbart die Stream-Aufführung die ständige User-Beteiligung als allgegenwärtige Alltagsbedingung[16] im digitalen Zeitalter. Während die Zuschauer*innen zu „Theaterusers“ werden, wird das Theater auch zum öffentlichen Gut, zum globalen common. In einer digitalisierten Kultur treffen sich und bilden Menschen Kollektive nicht mehr nur im Theater, sondern auch in sozialen Netzwerken, in Chats und „Online-Communities“. In diesem Sinne bringt die Pandemie des Covid-19 das Theater dazu, seinem zeitgenössischen Publikum zu begegnen.

Für den gemeinschaftlichen Traum des Theaters wirkt das Versammlungsverbot bzw. die Digitalisierung der Kulturproduktion wie ein Realitätsprinzip: Sie zeigen die Rasanz und die spielerische Leichtigkeit, mit welchen die technologische Effizienz digitale Ersatzformate bereitstellt, die durchaus imstande sind, Öffentlichkeit, Versammlungen und Gemeinschaftlichkeit zu befördern. Selbstverständlich heisst dies nicht, dass diese Formate mit Theateraufführungen gleichzusetzen sind: Vielmehr weist diese erzwungene Einsicht auf den Stellenwert des Digitalen in unseren sozialen Beziehungen, unserem Verhältnis zum Kollektiv bzw. zur Gemeinschaft sowie unseren ästhetischen Erfahrungen. Mit der Pandemie drängt sich nämlich die Digitalisierung mit deren eigenen Werkzeugen und Codes den Theaterschaffenden und -institutionen brisant auf: Drastisch werden sie mit deren „unterirdischen Präsenz“ konfrontiert, welche nicht mehr „widerrufen“[17] oder verdrängt werden kann. Diese Erkenntnis könnte indes die Theater dazu veranlassen, ihren gemeinschaftlichen Traum von der digitalen Dominanz aus zu überdenken. Für die Nach-Covid19-Zeit bedeutet dies nicht, dass die Theaterbühnen entweder zwangsläufig in reine Online-Formate assimiliert werden oder im Gegenteil mit einer radikalen Negierung reagieren sollten, indem für ein Theater „aus Fleisch und Knochen“[18] plädiert wird. Vielmehr könnte es sich darum handeln, „das künstlerische Manövrieren in der digitalen Gegenwart“ zu lernen, wie der ebengenannte Titel eines aufgrund der Pandemie ins Internet verlagerten Festivals des Berliner Theater Hebel am Ufer (HAU) suggerierte.[19] Denn eine digitale Gegenwart fordert nicht nur die physischen Theaterversammlungen heraus: Für die Kunst wirft sie auch die Frage auf, wie eine solche Gegenwart überhaupt erfahrbar gemacht werden kann. Entsprechend ist es auch die gemeinsame Erfahrung des Theaters und dessen Zukunft, das die Pandemie neu zu denken zwingt, und dies in einem (post)digitalen Zeitalter, in dem Chats, Streams und globale Vernetzung unsere Gegenwart wie unsere „leibliche Ko-Präsenz“ ebenso sehr erweitern wie sättigen. Die Versammlungsverbote mögen die Theater dazu ermutigen, die Formen und Bedingungen des „Gemeinschaftlichen“ zu revidieren und ihnen zu neuen Träumen zu verhelfen.

Who’s There?[20] fragte Herbert Blau in einer Betrachtung zum Publikum, und zwar in Anlehnung an die ersten Verse von Hamlet. Am Anfang der Tragödie kann sich die Frage, wie Blau betonte, in der Tat an das im Dunkeln sitzende Publikum wenden, das bei jeder Aufführung neu angerufen und konstituiert wird. Das Zitat galt Blau als Anstoss, das allerletzte Vorhandensein eines Publikums bzw. des Theaters überhaupt zu ergründen – und brachte ihn dazu, letzteres gerade als „Gemeinschaft der Frage“ zu erklären, nämlich als Gemeinschaft, die immer schon und immer wieder infrage kommt. Who’s There? – Die Frage, genauso wie Aufführungen und Zitate, funktioniert durch Wiederholung und Aktualisierung.

Bild: „Liebes Publikum – Online, […]“ – Annemie Vanackere, Intendantin und Geschäftsführerin des Berliner Hebbel am Ufer (HAU), eröffnet das Onlineprogramm des teilweise abgesagten Festivals “Spy on me #2. Künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart” (https://www.youtube.com/watch?v=4D3HuCr8x0c&t=2s)

 

Bibliografie

Bishop, Claire: “Digital Divide: Contemporary Art and The New Media”, In: Artforum 51 (2012), URL: https://www.artforum.com/print/201207/digital-divide-contemporary-art-and-new-media-31944 (20.05.20).

Blau, Herbert: The Audience, Baltimore und London 1990.

Blau, Herbert: “Who’s There? – Community of the Question”, In: Hunkeler, Thomas: Place au public: les spectators du theatre contemporary, Genf 2008.

Döcker, Georg: “Digitale Logen, leere Stühle und chaotische Räume. Über Corona und Theater”, URL: https://www.hebbel-am-ufer.de/hau3000/digitale-logen-leere-stuehle-und-chaotische-raeume/ (20.05.20).

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004

Niveau, Manuela: Crowd and Art – Kunst und Partizipation im Internet, Bielefeld 2017.

Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard, Wien 2015 (2008).

Tyżlik-Carver, Magda: “Towards an Aesthetics of Common/s: Beyond Participation and its Post”, URL: http://www.newcriticals.com/towards-aesthetics-of-commons-beyond-participation-and-its-post/print (20.05.20).

 

[1] Rancière 2015, S.15.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Blau 1990, S.10–11.
[4] Ebd., S.23.
[5] Vgl. Rancière 2015, S.13–14.
[6] Bishop 2012.
[7] Blau 2008, S.50.
[8] Blau 1990, S.29: ”I am speaking mainly of the multinational world, which has given us as a by-product a random-access society. So random is the access that even in the remotest bush unity is disrupted and no otherness is protected. […] It may not be what we mean by collective, but here we have another constituency – instantly accessed wherever aerials are – the incalculable presence of a spongy mass.”
[9] Siehe dazu https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17854:nachtkritikstream-christopher-ruepings-trommeln-in-der-nacht-an-den-muenchner-kammerspielen-im-digitalen-spielplan&catid=1768&Itemid=60 (12.05.20).
[10] Fischer-Lichte 2004, S.63–114; 129–160.
[11] Naveau 2017, S.44.
[12] Siehe dazu https://www.hebbel-am-ufer.de/en/hau3000/digitale-logen-leere-stuehle-und-chaotische-raeume/ (12.05.20).
[13] Siehe https://neu.schauspielhaus.ch/de/journal/18158/dekalog-gedanken-zur-genese-dieses-projektes (12.05.20).
[14]  Hier wird auf die interaktive Theatermethode des „Forums“ angespielt, so wie sie etwa in Augusto Boals „Theater der Unterdrückten“ praktiziert wurde. Dabei wurden die Zuschauer*innen zu „Spekt-Akteur*innen“ (spect-actors) gemacht, die Situationen und Konflikte gemeinsam analysieren und lösen.
[15] Siehe Bishop, Claire: Artificial Hells: Participatory Art and The Politics of Spectatorship, New York 2012, S.11–41.
[16] Tyżlik-Carver 2014.
[17] Bishop 2012.
[18]  Jean Liermier im RTS-Radio (Radio Télévision Suisse) am 02.04.2020: https://www.rts.ch/info/culture/spectacles/11217136-mathieu-bertholet-ce-qu-on-fait-c-est-du-theatre-pas-de-la-communication-.html (05.05.2020).
[19] Siehe das Onlineprogramm des Festivals „Spy on Me #2 – Künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart“ auf https://www.hebbel-am-ufer.de/spy-on-me-2/.
[20] Blau 2008, S.41.