Vernünftige Magie: Über die Grenzen des Menschenmöglichen hinaus

Text: Konstanze Hanitzsch

Magie ist nach Diderots «Encyclopédie» (1765) die «okkulte Wissenschaft oder Kunst, die uns lehrt, Dinge zu vollbringen, die über das menschliche Vermögen hinauszugehen scheinen» (Selg, Wieland, 2001, S.252). Vieles von dem, was früher als Magie bezeichnet wurde, ist heute Wissenschaft und findet sich u.a. in Teilbereichen der Chemie oder Medizin. Doch hängt der Magie auch der Ruf des «Primitiven» oder «Vorzivilisatorischen» an. So hierarchisierte beispielsweise James George Frazer die evolutionistische Dreiteilung Magie – Religion – Wissenschaft (vgl. Otto, 2011, S. 45ff.).

Es ist (vor allem im deutschen) Kontext verständlich, dass magisches Wissen bzw. Hexerei, Magie und Okkultismus kritisch betrachtet werden und der Vernunft zumeist der Vorrang gegeben wird. Zumal esoterisches Denken häufig mit essentialistischen und deterministischen Annahmen verbunden ist, die völkisch nationle Ideologeme begründen oder befördern können. Adorno bezeichnete in seinen «Thesen gegen den Okkultismus» diese als «Metaphysik der dummen Kerle» (Adorno, 1980, S. 325). An anderer Stelle heisst es: «Als ob nicht jeder Elementargeist Reissaus nehmen müsste [sic] vor den Fallen der Naturbeherrschung, die seinem flüchtigen Wesen gestellt werden» (ebd., S. 327). Damit verweist Adorno auf die Versuche, das Spirituelle dingfest zu machen, sei es z.B. in Fotografien. Die Trennung von Leib und Geist sei im Spirituellen Bereich grösser als in jeder Wissenschaft (ebd., S. 326-327).

In neueren feministischen theoretischen Entwicklungen zeichnet sich jedoch eine andere Form der Bezugnahme auf Spiritualität ab. Dies ist nicht auf den ersten Blick immer erkennbar. Aber die derzeitigen Auseinandersetzungen um die Verschränkung von Kultur- und Naturverhältnissen, wie sie z.B. im sogenannten neuen Materialismus stattfinden, bewegen sich auf einer Trennlinie, an der auch religiöses und spirituelles Denken angesiedelt sind. Die Trennung in Geist und Leib, bzw. in Kultur und Natur, die für die kritische Geschlechterforschung immer von grosser Bedeutung war und ist (denn an dieser Schnittstelle wurden und werden ontologische Festschreibungen von Geschlecht und «Race» getätigt) wird hier neu betrachtet und das Ineinanderwirken beider Ebenen auf ihre Untrennbarkeit hin dargestellt.

Eine der Hauptvertreter*innen des sogenannten neuen Materialismus, Karen Barad, entwickelte den Begriff des agentiellen Realismus. Die Quantenphysikerin stellt in Bezug auf Niels Bohrs Experimente zur Frage ob Licht aus Teilchen oder aus Wellen bestehe, dessen Ergebnis heraus, dass dieses vom Versuchsaufbau und das bedeutet von der beobachtenden Person abhängig sei. Hatte die feministische Wissenschaftskritik übende Natur- und Kulturwissenschaftlerin Donna Haraway den Begriff des situierten Wissens geprägt, um auf die Konstruktion des (gemeinhin «männlichen» und weissen) objektiven Wissens hinzuweisen und dieses zu dekonstruieren, so verweist Barad mit Bezugnahme auf die Quantenphysik letztendlich auf die interative Intra-Aktivität: Sie entwirft «um Interaktionen von Menschen mit Technik oder Dingen zu fassen» diesen Begriff «und entwickelt damit Judith Butlers Begriff der Iteraktivität (der ständigen und dabei ständig Varianten produzierenden Wiederholung performativen Handelns) weiter in Richtung Praxis […] Intra-Aktivität ist eine Aktivität zwischen Subjekt und Objekt, in der nicht mehr entscheidbar ist, wer Handlungsfähigkeit (agency) hat, weil diese keine Art von Besitz ist, sondern schon immer in die Praktiken involviert ist. Stattdessen geht es um das ständig wiederholende (iterative) ‹Tun› und ‹Aufführen›» (Bergmann, 2014, S.50-51). Diese Form der Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt hat einen zutiefst ethischen Anspruch auf Achtsamkeit der Welt gegenüber. In diesem Sinne ist dieses Denken nicht auf den ersten Blick als spirituelles Denken erkennbar, doch liegt eine (z.T. an Spinoza erinnernde) Betrachtung und Umdeutung und Veränderung der Welt hin zu einer gerechteren diesen wissenschaftlichen Denkfiguren zu Grunde (vgl. Barad, 2015). Die Verlagerung der Handlungsfähigkeit weg von einem eindeutigen Subjekt hinein in die Verschränkung mag im ersten Moment als Entmächtigung erscheinen, zugleich sind Machtverhältnisse (im Sinne Foucaults) hier jedoch auf allen Seiten angesiedelt.

Silvia Federici hat in ihrem 2017 in der vierten überarbeiteten Auflage erschienen Buch «Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation» dargestellt, dass in der Zeit des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Europa die Magie in Form der Hexenverfolgung vernichtet wurde und damit eine Entmächtigung der einfachen Menschen einher ging. Federici zeigt in diesem Buch im Weiteren, dass die europäische Hexenverfolgung unmittelbar verknüpft war mit europäischer Kolonialgeschichte. Die Ausbeutung der Natur sei mit der Unterwerfung der Frau* einhergegangen und die Bestrafung der Hexe, d.h. der Frau*, die im Besitz magischen Wissens war, habe den Frauen* und unterdrückten Menschen, die sich unter anderem gegen die Vereinnahmung durch den Kapitalismus widersetzen wollten, ihre Befähigung zur Aneignung von Naturkräften genommen. Zugrunde lag dem Magiebegriff ein animistischer Naturbegriff der keine Trennung von Materie und Geist zuliess (Federici, 2017, S. 179). Magie bedeutete auch, ohne Arbeit zu erlangen, was man sich wünschte, war also praktisch Arbeitsverweigerung. Federici schreibt weiter, «dass in allen vorkapitalistischen Gesellschaften an sie geglaubt wurde, und dass wir in jüngerer Zeit eine Aufwertung von Praktiken erlebt haben, die in der in diesem Buch verhandelten Zeit als Hexerei verurteilt worden wären» (ebd. S. 180).

Es ist interessant, dass heute postkoloniale, antikapitalistische Bezugnahmen auf Magie (wieder) vorgenommen werden. Dies zeigt(e) sich unter anderem in der Ausstellung und dem Ausstellungskatalog «Die Beschwörung der beunruhigenden Muse. Von Göttlichem, Supra-Realitäten oder der Austreibung von HEXEREI» (2017) des SAVVY Contemporary in Berlin, in dem der Fokus auf afrikanischer (Kolonial-)Geschichte und Gegenwart lag.

Queer/feministische antikapitalismuskritische Magie scheint sich aktuell neu zu formieren bzw. in den akademischen Diskurs einzutreten. Hierfür ist u.a. der Sammelband «Reale Magie» (herausgegeben von Susanne Witzgall, 2017) ein Beispiel. Hier aufgeführte Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst (z.B. der Techno-Schamanismus) zeigen eine Bezugnahme auf aktuelle neue technologische Entwicklungen bzw. neue philosophische und theoretische Betrachtungen der Untrennbarkeit von Natur und Kultur(-verhältnissen), die in magischen Ritualen und Performances aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Diesen Arbeiten ist zum Teil ein utopisches zum Teil auch prophetisches Potential eigen. Federici beschrieb, dass magische Glaubensvorstellungen oft Quelle sozialer Aufsässigkeit waren (Federici 2017, S.181). Der Terror gegen Magie und Hexerei existierte vor allem, weil beides mit kapitalistischer Arbeitsdisziplin unvereinbar war (ebd., S.182). Die Gestalten des Techno-Schamanismus (des Johannes Paul Raether z.B.) haben sich heutige Technologien angeeignet, verweben diese jedoch mit sciencefiction-förmigen Zukunftsvisionen (z.B. die Bildung neuer Familienzugehörigkeiten unter Verwendung aktueller reproduktionsmedizinischer Möglichkeiten), die sich vielleicht verwirklichen lassen, vielleicht auch nur prophetisch auf eine Zukunft verweisen, die es zu verwirklichen gilt.

Spekulative, magische Zukunftsentwürfe, ethische neue wissenschaftliche Denkmodelle weisen Wege auf, die sich in der realen Zukunft dann vielleicht als anders erweisen. Doch die Irrationalität und das Eingeständnis der eigenen verletzlichen Involviertheit in die Welt können helfen, die Welt wie sie ist zu verändern. Es kann in diesem Sinne überaus vernünftig sein, über das Menschenmögliche hinaus zu gehen, um am Horizont das Mögliche zu entdecken.

Dieser Beitrag wurde im FemInfo 48, 2018 originalveröffentlicht. Die Illustration stammt von Nora Ryser.