Am 15. November 2015 rief der polnische Maler und Videokünstler Karol Radziszewski das Queer Archives Institute (QAI) ins Leben, eine der »Forschung, Sammlung, Digitalisierung, Präsentation, Ausstellung, Analyse und künstlerischen Interpretation von Queer-Archiven mit besonderem Fokus auf Mittel- und Osteuropa«[1] gewidmete Non-Profit-Organisation. Diese Initiative des öffentlich bekennenden schwulen Künstlers ist ein Versuch, eine Art alternatives Vorfahrenarchiv aufzubauen, nicht zuletzt, um die Besonderheiten der Geschichte der Queer-Kultur in den kommunistischen Ländern unter den Bedingungen politischer Unterdrückung und kultureller Marginalisierung zu veranschaulichen. Das QAI entstand im Rahmen von Radziszewskis Artist-in-residence-Aufenthalt in Brasilien und ist als Interart-Projekt konzipiert, das sich verschiedener Medien (Audio, Video, Schrift und Bild, materielle Objekte) und hybrider Kunstformen (Zeitzeugengespräche, inszenierte Interviews, Mockumentarys, Re-Performances, vom Künstler kuratierte Ausstellungen und selbst herausgegebene Fanzines) bedient. Radziszewskis dokumentarische und archivarische Praxis liegt somit im Bereich der Interart: am Schnittpunkt von Kunst und Wissenschaft, von künstlerischen und institutionellen Aktivitäten, die den Ort der Queer-Kultur historisch und sozial neu bestimmen.
Das QAI ist zugleich ein performatives und diskursives Unterfangen, das mit dem Konzept des Archivs spielt und dieses zugleich als traditionelle Institution, die durch Aufbewahren ausgewählter Dokumente den Begriff der Öffentlichkeit vielfach erst konstruiert, infrage stellt. […] Anhand von differenzierten medialen Überresten, die den Gegenpart zu traditionellen Archivquellen darstellen, versucht Radziszewski, ein Queer-Archiv zu konstruieren, indem er teilweise selbst erzeugte Dokumente sammelt, zu denen sowohl Aussagen von Zeitzeugen vor Kamera gehören als auch Objekte, die das Vorhandensein der Queer-Kultur im ehemaligen Ostblock nachweisen sollen.[2] Radziszewskis Projekt ist als eine kritische Intervention in die öffentliche Sphäre zu verstehen, mit der der Künstler bezweckt, eine Art Gegen-Archiv aufzubauen, in dem das, was offiziell verleugnet und als Teil der kollektiven Geschichte abgelehnt wurde, seinen Platz in Form transgenerationeller und transkultureller Erinnerung wiederfinden kann. Das QAI, das explizit mit der politischen Autorität des Archivs spielt, betrachte ich als einen Versuch, die Foucault’sche Idee der Heterotopie mit Michael Warners Konzept der Gegenöffentlichkeit[3] zu vereinbaren. Einerseits ist das QAI heterotopisch, weil es die Idee eines wirksamen Orts verkörpert, der zwar »in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet ist«, aber als »Gegenplatzierung«, als subversiver Ort, als »tatsächlich realisierte Utopie« zu denken ist, »in der die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind«.[4] Indem Radziszewski bei der Archivierung der Queer-Kultur und -Geschichte den Akzent auf die Erfahrung legt und den Konflikt mit der normativen Öffentlichkeit hervorhebt, bildet er mit seinem Projekt eine Form der Gegenöffentlichkeit, die als »partikulare Parallelformation von minoritärem und sogar untergeordnetem Charakter verstanden werden [kann], in de[r] andere oder oppositionelle Diskurse und Praxen formuliert und verbreitet werden können«.[5] Darüber hinaus werden hier mit dem Begriff ›Überreste‹ grundsätzlich körperliche Dokumente bezeichnet, d.h. Gesten, Posen, Klänge, Sprachfetzen oder Objekte, die erhalten bleiben, sich im Körper ablagern und Spuren hinterlassen.[6] Radziszewski spielt mit beiden Bedeutungsdimensionen und konstruiert anhand differenzierter medialer Überreste (Aussagen, Gesten, Posen oder Objekte wie halblegale Zeitschriften, private Fotos, Filme, Dias, Zeichnungen, Notizen, Kleider, die zwar erhalten geblieben sind, allerdings ohne Überlieferungsabsicht) subversiv das Archiv und somit auch die Tradition der Queer-Kultur.
Das Institut ist ein Queer-Projekt durch und durch, nicht nur wegen der Problematik, sondern auch wegen seines unvollendeten, potenziellen und prozessualen Charakters. Einer der wichtigsten Queer-Theoretiker, José Esteban Muñoz, schreibt in seinem Buch Cruising Utopia: »Queerness is not yet here. Queerness is an ideality. Put another way, we are not yet queer. […] Queerness is also a performative because it is not simply a being but a doing for and toward a future«.[7] Radziszewskis Projekt weist in die Zukunft und basiert auf der Idee der Potenzialität. Es ist ein Projekt, das sich performativ im Rahmen weiterer wissenschaftlich-künstlerischer Handlungen verwirklichen und nicht seinen endgültigen Abschluss in Gestalt einer traditionellen Institution und ihrer Legitimation in der normativen Wirklichkeit finden soll. Das QAI ist unter diesen Vorzeichen ein logisches und konsequentes Element in der künstlerischen Praxis Radziszewskis, in der man um 2010 eine archivarische Wende beobachten kann. Die Wendung zur Geschichte der Queer-Kultur stellt eine wesentliche Zäsur dar, weil sie dem Künstler eine Reflexion über die performative Produktion von Zeugnissen, über den Status des Körpers des Zeugen als besonderem Dokument der Vergangenheit sowie als Gedächtnismedium ermöglichte. In seinen Arbeiten wie Kisieland (2009-bis heute), MS 101 (2012), America Is Not Ready For This (2011−2014) oder The Prince (2014) verläuft die Arbeit mit dem zu archivierenden Material jeweils unterschiedlich.[8] Sie beruht nicht zuletzt auf einer besonderen Aneignung der Dokumente – etwa der gedruckten bzw. audiovisuell aufgenommenen Interviews, Fotos, Aufzeichnungen von Performances – in der performativen (Re-)Inszenierung mithilfe der medialen Wiederholung, des erneuten Wiedergebens in einer anderen Konstellation, durch andere Stimmen und Körper, manchmal einzig durch Zitieren und Montieren in einem neuen Kontext. Radziszewski reflektiert auch gerne die Möglichkeiten, alternative Geschichtsnarrationen anhand von Reenactment-Strategien zu konstruieren.
In seinen Arbeiten problematisiert er künstlerisch das Archiv als Macht ausübende Institution; mit dekonstruktiver Ironie offenbart er ihre Hierarchien, die bestimmte Texte, Stimmen und Bilder und ihre Interpretationen privilegieren und dabei andere auslöschen. Radziszewski fragt so implizit danach, wer von den Archiven profitieren kann und welche Regeln gelten. Als Gay-Künstler fordert er die ›Macht des Archonten‹ heraus. Er setzt sich letztendlich für den Körper als alternative Art des Geschichtszugangs, als lebendiges Medium ein, das der als patrilinear erkannten, vorherrschenden Archivkultur wirksamen Widerstand leisten kann. Das QAI und Radziszewskis jüngste Arbeiten entspringen also einem kritischen Verständnis des Archivs, was man auch als künstlerische Verkörperung des archival turn, wie er sich in den amerikanischen Theorien des Performativen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollzog, verstehen kann. Hierbei kam es nämlich zu einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Körper/Körperlichkeit und Archiv/Archivieren durch Performance-Theoretiker und Theoretikerinnen wie José Esteban Muñoz, Rebecca Schneider oder Diana Taylor.[9] Sie konstatieren die für die westliche Kultur charakteristische Marginalisierung körperlicher Praktiken, die daraus resultiere, dass Körper und Ereignis als etwas Ephemeres gelten, das sich jeglicher Aufzeichnung, Konservierung und Überlieferung entziehe. Auf diese Weise wurde der Körper, der angeblich keine dauerhaften Spuren zurücklässt, aus dem Archiv und damit vom Einfluss auf Geschichtsnarration sowie Identitätspolitik ausgeschlossen. […]
Karol Radziszewski, der ein spezifisches Gegen-Gedächtnis und eine alternative Geschichtsnarration anstrebt, die mit der Erfahrung nichtnormativer Körper unter den Bedingungen der kulturellen Randlage Osteuropas verbunden ist, gestaltet seine künstlerische Praxis im Feld einer ›Entkolonialisierung der Archive‹ und der ethnografischen Forschung:
My work rarely involves visits to libraries; I prefer to focus on direct contact with the witnesses to events and gather their memories. Typically, I would first meet local activists, who would give me information about people I could potentially talk to, and they often suggested new avenues where I could find further material. Thus obtained and recorded audio or video interviews become documents, and the beginnings of an archive.[10]
Aus diesem Verständnis des Archivs entstand im Jahr 2008 sein erstes künstlerisches Forschungsprojekt. Damals beschloss Radziszewski als Gründer und Herausgeber des DIK Fagazine – des einzigen männlich homosexuell orientierten Kunstmagazins des postsozialistischen Osteuropas – zu prüfen, ob in den sozialistischen Ländern, bevor die ›rainbow colonisation‹ aus dem Westen nach 1989 begann, eine eigene Queer-Kultur existiert hatte und ob sich noch heute Spuren einer organisierten Gemeinschaft finden und rekonstruieren lassen: Begegnungsorte für Homosexuelle, cruising areas, und auch der Homosexualität oder (seit den 1980er Jahren) der HIV-/Aids-Problematik gewidmete Publikationen. Da Radziszewski nicht mit der Möglichkeit rechnete, Zugang zu offiziellen Dokumentationen aus der Zeit vor 1989 zu erhalten, unternahm er eine empirisch-ethnografische Untersuchung und ging ins Feld: nach Polen, in die Ukraine, nach Estland, Litauen, Rumänien, Serbien, Ungarn und Tschechien, um die aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängten Zeugen einer bis dahin nicht aufgearbeiteten Queer-Geschichte Ostmitteleuropas zu finden. Die dreijährige Forschung erbrachte eine unerwartet breite Dokumentation – darunter mehrere Dutzend Interviews mit Vertretern der nichtnormativen Kultur im Sozialismus –, deren Reichtum Radziszewski die provokante These »we were queer before gay«[11] erlaubte. Zu einer ähnlichen Erkenntnis kamen auch die Redakteure der achten Ausgabe des DIK Fagazine mit dem Titel Before ’89, in der die Ergebnisse einer von ihnen erprobten Methode der gesprochenen Geschichte veröffentlicht wurden. Magda Szcześniak kommentiert die Ergebnisse:
Da mit Interviews gearbeitet wurde, waren die Gesprächsteilnehmer nicht gezwungen, ihre Erinnerungen und Empfindungen vollständig zu ordnen; sie bewegten sich sowohl frei in der Zeit als auch im Raum, stellten nicht aufeinander folgende Momente einander gegenüber, sprangen zwischen den 1960er und 1980er Jahren hin und her und produzierten einen Vergleich, der auf affektiven Assoziationen beruhte.[12]
Bereits in Radziszewskis Projekt von 2008 deutete sich das Ins-Leben-Rufen des Queer-Archivs der gesprochenen Geschichte, des privaten Zeugnisses und des verkörperten Gedächtnisses an – mit der zentralen Figur des Zeugen, dessen Gefühle und subjektives Erleben der Wirklichkeit wesentlicher erscheinen als eine objektive Darstellung historischer Tatsachen oder die Konzeptualisierung sexueller Identitäten nach heutigen Unterscheidungen. Die Zeitzeugen informieren hier nicht in erster Linie über historische Fakten, sondern bezeugen ihre Erfahrungen des Geschehenen als Individuen. Mit seinen Zeugengesprächen konstruiert Radziszewski aber nicht nur ein Queer-Archiv, sondern auch – im gewissen Sinne als Nebenprodukt – ein Trauma-Archiv, in dem die Aids-Erfahrung der 1980er Jahre in Osteuropa sowie die Situation der politisch-gesellschaftlichen Unterdrückung auf unmittelbare Art und Weise ihren Ausdruck finden. Das Trauma bleibt vielfach unausgesprochen, die Trauer um die Verstorbenen kommt bei den Gesprächspartnern nur spurenweise zum Vorschein: als Teil der Erinnerungen, in Form von Assoziationen, in materiellen Objekten (etwa Notizen, Fotos, Zeichnungen, Kleidern), in der Körpersprache der einzelnen Interviewten. Das fragmentarische, affektive und leibliche Gedächtnis der Sprechenden erweist sich somit nicht nur als unheimlicher Raum, in dem »spectral bodies of those anonymous sex acts«[13] geistern, sondern auch als performativer Akt der Dokumentation der verborgenen Queer-Geschichte in Polen und darüber hinaus.
Die geschichtsphilosophische Bedeutung des Zeugnisses wurde von Alexander García Düttmann im Kontext der Aids-Epidemie formuliert und dann von Sigrid Weigel in Verbindung mit dem Holocaust-Zeugnis wieder aufgegriffen und weiterentwickelt.[14] Düttmann betrachtet das Zeugnis, das infolge eines »jedesmal einmaligen und jedesmal wiederholten Akts des Bezeugens« entsteht, als »ein Performativum ohne Wissen«[15], also ausdrücklich als eine Form der Aussage, die es unmöglich macht, auf das Zeugnis eine objektive Geschichtsschreibung zu stützen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Ungleichzeitigkeit der Geste des Bezeugens mit dem Geschehenen sowie die letztendlich unzugängliche und unteilbare Erfahrung. Hier ist das Paradox des Zeugnisses zu erkennen, da, wie Düttmann festhält, »das der Identifikation sich entziehende Zeugnis kein bestimmtes Etwas bezeugt und man sich dennoch zu einem Geschehen verhalten muss, das in sich un-eins ist«.[16]
Während der Arbeit an Before ’89 traf Radziszewski auf Ryszard Kisiel, den Gründer von Filo, dem ersten Gay-Magazin im Ostblock, das halblegal herausgegeben und hauptsächlich unter Freunden und Gleichgesinnten in den Jahren 1986 bis 1990 verbreitet wurde. Kisiel, der Bekannte und Freunde durch Aids verlor, engagierte sich in seinen Publikationen stark für die Aufklärungsarbeit. Radziszewski begann mit einer eindringlichen Befragung von Kisiel, dem zufällig getroffenen Zeitzeugen, der sich schnell in einen ›neu entdeckten Vorfahren‹ (queer ancestors) verwandelte. Weitere Treffen mit Kisiel wurden u. a. in seiner Wohnung in Danzig organisiert, die nur aus einem Zimmer bestand, das sich aber als ein umfangreiches Archiv der Queer-Kultur erwies. Die Wohnung beherbergte Stapel von Zeitschriften und Magazinen, Plakate, Flyer, Zeitungen und Zeichnungen, Aufkleber und schließlich auch Dias von Fotosessions, die Ryszard Kisiel erst nach einigen Monaten Bekanntschaft mit Radziszewski aus einer sich unter dem Bett befindenden Plastiktüte herausholte. Die rund 300 Farbdias, eine Dokumentation von Kisiels Kameraperformances mit seinen männlichen Freunden, wurden zur Inspiration von Radziszewskis Videoarbeit Kisieland (2012).[17]
Kisieland, das als eine Art videografiertes Zeugnis verstanden werden kann, stellt einen Versuch dar, den Akt des Bezeugens mit den Strategien des Reenactments künstlerisch zu vereinbaren. Während das Interview mit Kisiel in seiner Danziger Wohnung als »performatives Eingreifen in Kisiels Privatarchiv«[18] zu interpretieren ist, erscheint das Künstlerstudio als ein Ort, in dem das Reenactment stattfindet, das die aus der Öffentlichkeit verbannten Darstellungen in historische Dokumente einer minoritären Kultur verwandelt. Diese Transformation erfolgt durch eine Serie von Reinszenierungen, in denen ein junges Model ausgewählte Dias von erotischen Sessions nachzustellen versucht, die Kisiel und sein Partner in den 1980er Jahren durchgeführt haben und die sich oft auch auf bekannte künstlerische Werke bezogen (z.B. Das Jüngste Gericht von Michelangelo). Die konkreten materiellen Bezüge spielen dabei eine entscheidende Rolle: Den Rekonstruktionen geht ein Besuch in der Damengarderobe des Warschauer Teatr Dramatyczny voraus, wo die Kostüme für die geplanten Reenactments ausgesucht werden. Die Garderobe erscheint hier als eine Form des Archivs, wo ein Verhältnis zur Materialität der Geschichte hergestellt wird, indem Erinnerungen von Kisiel durch den taktilen Kontakt mit den alten Kostümen erst eine visuelle Form annehmen. Die Kostüme, die selbst ihre eigene (Theater-)Geschichte haben, werden dann in Radziszewskis Atelier mit der auf den Originaldias festgehaltenen Modegeschichte der Volksrepublik Polen konfrontiert. Es folgt der Versuch, die erotischen Posen der alten Freunde am Körper des jungen Models zu wiederholen, das sich aber den Reinszenierungen permanent zu widersetzen scheint. Da die meisten Kostüme zu eng sind und sich nur teilweise anpassen lassen, wirkt die auf den Körper des Reenactors übertragene Ästhetik unernst, vollkommen grotesk. In dieser Diskrepanz zwischen unseren heutigen ästhetischen Gewohnheiten und dem auf den Originaldias aufbewahrten Stil offenbart sich jedoch, wie Szcześniak bemerkt, »die Spezifik der polnischen Queerness zur Zeit der Volksrepublik und vielleicht sogar die queeren Eigenschaften ebendieser Volksrepublik selbst«.[19]
Die »Techniken der osteuropäischen Modebricolage«,[20] geprägt durch die damaligen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, trugen letztendlich dazu bei, dass Kisiels Performances – damals wie heute – als eine Art gescheiterte Dragqueen-Show wahrgenommen werden. Radziszewski interessieren solche gescheiterten Inszenierungen, weil gerade sie die queeren Geschichten von Körpern erzählen, die er hören, denen er das Wort erteilen will. Das Scheitern trägt nämlich ein befreiendes Potenzial in sich, das oft in der Queer-Theorie (etwa von José Esteban Muñoz oder Jack Halberstam[21]) als emanzipatorisch beschrieben wird; darüber hinaus lässt das Scheitern zu, sich vom Prinzip der Produktivität zu befreien. Hier sind also die Wurzeln des Queer Archives Institute zu erkennen, das zum Ziel hat, nicht nur die vergessene Geschichte der soziokulturellen Ränder Osteuropas zu erforschen, sondern auch eine Demontage der vorherrschenden Bilder dieser peripheren Regionen zu betreiben, die politisch, wirtschaftlich und kulturell aus der Geschichte der westlichen, kapitalistischen Moderne jahrelang ausgeschlossen waren bzw. sich selbst ausgeschlossen haben.
Die künstlerische Intervention in das Privatarchiv beruht in Kisieland nicht nur auf der Selektion des zur öffentlichen Präsentation ausgewählten Materials, sondern auch auf der Wahl von Dokumentationsmitteln, da die Reenactments von Radziszewski selbst sowohl mit Videokamera aufgezeichnet als auch fotografiert wurden. So entsteht ein eigenwilliges dokumentarisches Material, das die künstlerische Archivierung als einen unabgeschlossenen Prozess zeigt, der einer permanenten Wiederholung, Aneignung und Umwandlung unterliegen kann. Das Beleben von Kisiels Archiv durch die Reinszenierung der Dias fördert »wichtige Aspekte des Projekts der Queer-Historiografie«[22] zu Tage, wobei das Verhältnis zwischen der (Re-)Performance und dem Zeugnis von grundlegender Bedeutung zu sein scheint. In Kisieland thematisiert Radziszewski nicht nur seine Begegnung mit Kisiel, einem Zeugen der Gay-Kultur der Volksrepublik, sondern auch die Entstehung bzw. Herstellung des Zeugnisses: Indem die gescheiterten Rekonstruktionen von auf Dias gebannten Queer-Performances durch den Film registriert werden, wird der Film selbst zu einer Art sekundärem Zeugnis, das zugleich den künstlerischen Archivierungsprozess dokumentiert. Die sekundäre Ebene des Zeugnisses offenbart sich einerseits im Zeuge-Sein des Zeugnisses anderer (Radziszewski als Fotograf des Reenactments) und dem Zeuge-Sein des Prozesses des Zeuge-Werdens (das Video von Radziszewski).
Da die Ergebnisse des Dokumentationsprozesses im Film vom Künstler nur selektiv in Form einer medialen Aufzeichnung präsentiert werden, wird der Videozuschauer zum tertiären Zeugen, dem z.B. die Einsicht in das fotografische Material vorenthalten wird. Der Zuschauer, der weder die historischen Geschehnisse noch die originären Performances und deren Reinszenierungen kennt, wird vom Künstler zu einer ›Erinnerungsarbeit‹ bzw. einer kritischen Betrachtung des im Videozeugnis Gesagten, Gezeigten und Dargestellten animiert. Somit wird die dialogische Struktur zwischen dem Zeugnis-Geben und Zeugnis-Empfangen trotz des Uneins-Seins mit dem Geschehen aufrechterhalten und fortgesetzt, was als eine besondere Eigenschaft des videografierten Zeugnisses gesehen werden kann. Die lebendige Erfahrung ist nicht auf den Zeugen beschränkt, sondern bezieht als performativer Akt den historisch entfernten Rezipienten als sekundären bzw. tertiären Zeugen mit ein. Das Zeugnisablegen stellt demnach eine dialogische Kommunikation dar, die abhängig vom historischen Index der jeweils rezipierenden Person von Neuem beginnt und eine erneute Antwort auf die Widerfahrnisse des Bezeugens fordert.[23]
Auf der Achse zwischen dem Künstler als sekundärem Zeugen und dem Rezipienten als tertiärem Zeugen wird das Ereignis erst konstruiert, das ein traumatisches Potenzial in sich trägt und von verantwortungsethischer Relevanz erscheint. Zu einem solchen Ereignis avanciert in Radziszewskis Werk etwa die von der kommunistischen Partei in Polen angeordnete Aktion Hyacinth, die in der Zeit der ersten Aids-Epidemie in den Jahren 1985−1987 durchgeführt wurde. Ziel der Aktion war das Ausspionieren und eine umfassende Dokumentation der polnischen Homosexuellenszene sowie die Kriminalisierung des homosexuellen Milieus. Es erscheint symptomatisch, dass Radziszewski als Gründungsdatum für sein Queer Archives Institute den 30. Jahrestag dieser politischen Aktion gewählt hat, die auf Anordnung des damaligen Innenministers Czesław Kiszczak am 15. November 1985 begann. Sie verlief in Form einer ideologischen Säuberung: An jenem Tag erschienen in Schulen, Universitäten und Arbeitsstätten in ganz Polen die Funktionäre der Miliz, um Personen festzunehmen, die man verdächtigte, homosexuell zu sein. Außer der Registrierung in der neu angelegten Homosexuellenkartei, inklusive Fingerabdrücken, wurden die Festgenommenen durch Erpressung dazu gezwungen, andere Homosexuelle anzuzeigen wie auch die Sexualtechniken zu beschreiben. Die Aktion resultierte in der Zwangsausgrenzung von Homosexuellen aus dem öffentlichen Leben;32 außerdem hinterließ sie ca. 12.000 Personenakten, die im heutigen Institut für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) die sog. ›Rosa Akten‹ bilden. Da die Operation strickt geheim durchgeführt und von den kommunistischen Politikern geleugnet wurde, blieb sie der breiten Öffentlichkeit jahrelang vollkommen unbekannt.[24]
Die Queer-Theoretikerin Joanna Mizielińska behauptet in ihrem Text »Travelling ideas, travelling times. On the temporalities of LGBT and queer politics in Poland and the West«, dass die polnische LGBT-Bewegung über kein Schwellenereignis verfügt, auf das sich eine mythologisierende Narration stützen könnte.[25] Weder die Unruhen vom 28. Juni 1969 im Stonewall Inn in der New Yorker Christopher Street noch der politische Umbruch in Osteuropa im Jahr 1989 können als grundlegende Zäsur im Prozess der Emanzipierung der sexuellen Minderheiten in Polen angesehen werden. Mit seiner künstlerischen Intervention scheint Radziszewski überzeugen zu wollen, dass als solches Ereignis eben die geheimdienstliche Aktion Hyacinth angesehen werden könnte, obwohl (oder gerade weil) man über keine Dokumente darüber verfügt, dass sie stattgefunden hatte, da der Zugang zu den ›Rosa Akten‹ nach wie vor gesperrt bleibt. Radziszewskis Video über den voremanzipatorischen Protagonisten der Gay-Bewegung in Polen, Ryszard Kisiel, nimmt vor diesem Hintergrund die Form eines quasi-historischen Zeugnisses an. Der Film basiert einerseits auf dem Akt des Bezeugens, den der von der Aktion Hyacinth wie auch von der Aids-Epidemie Verschonte – ein Aids-Überlebender[26] – vollzogen hat. Andererseits bildet das Interview mit Kisiel den medialen Rahmen für das Zeugnis, das der Künstler Radziszewski selbst ablegt. Die von ihm konstruierte Situation, die uns in Gestalt eines Videodokuments präsentiert wird, verweist formal und strukturell auf die videografierten Zeugnisse von Überlebenden der Shoah, die in einer filmisch dokumentierten Interviewsituation ein Gespräch vergegenwärtigen, das den je singulären Erfahrungen eines radikalen Ausgesetztseins an Verfolgung, Vernichtung, Auslöschung Raum und Zeit gibt, und dem historischen Zeugen eine individuelle Stimme, ein Gesicht, einen Körper verleihen.[27]
Indem Radziszewski an die für die dritte Phase der Zeugenschaft über den Holocaust[28] charakteristischen Verfahren anknüpft, die Verfolgungs- und Vernichtungserfahrungen sowie Trauer über den Verlust der Verstorbenen zu medialisieren, nähert er sich dem Konzept des multidirektionalen Gedächtnisses, das, so Michael Rothberg, auf der Erkenntnis der Korrespondenzen zwischen den unterschiedlichen Formen der Gewalt basiert, die in der Moderne an Minderheitsgruppen ausgeübt wurden.[29] Radziszewski stellt die jüdische und die homosexuelle Geschichte in einen Bezug zueinander, ohne dabei die Unterschiede auszulöschen oder die jeweilige Einzigartigkeit zu fetischisieren. Um die Geschichte der Queer-Kultur in Polen jenseits der Normen von Objektivität und Überprüfbarkeit zu erzählen, insistiert Radziszewski auf die Aktion Hyacinth als ein autonomes Ereignis mit traumatischem Charakter für das homosexuelle Milieu in Polen und verwandelt den Zeugen der Aktion in eine Figur, die die Wahrheit über die vergangenen und zugleich verdrängten Geschehnisse bezeugen soll. In Radziszewskis Film offenbart sich somit das grundlegende Paradox des Zeugen, das darin besteht, dass der Zeuge, indem er eine Figur absoluter Singularität darstellt, gleichzeitig immer außerhalb seiner selbst auf die mit anderen geteilte Erfahrung verweist.[30]
In Kisieland verweist die partikuläre Erfahrung eines einzelnen auf die kollektive Erfahrung einer Gemeinschaft. Man muss aber betonen, dass zwischen der künstlerischen Geste der Erhebung der Aktion Hyacinth zu einem Durchbruch-Ereignis in der Geschichte der homosexuellen Kultur in Polen und der subjektiven Erfahrungsdimension historischer Geschehnisse des Filmprotagonisten und Zeugen Ryszard Kisiel eine Diskrepanz besteht. Die individuelle Perspektive bzw. persönliche Erinnerungen an das Geschehnis subvertieren zugleich seine traumatisierende Dimension, indem diese in einer Art Befreiungsakt durch die exzentrischen sexuellen Performances überwunden wird. So erinnert sich Kisiel im Filminterview:
Die Miliz rief mein coming out hervor. Von da an ging ich aufs Ganze, fing an, meine Ideen zu verwirklichen, seien es künstlerische, seien es pornografische, und so schuf ich eben diesen Diazyklus, gleich nach der Aktion Hyacinth. […] Das war wie eine Öffnung, ein spontaner Ausbruch der eigenen Identität.[31]
Kisiel verweist damit auf den emanzipatorischen Charakter seiner Performances, die als eine unmittelbare Reaktion auf die politischen Repressionen im Jahre 1985 angesehen werden können. Diese Reaktion kann wiederum als Ausdruck typischer Queer-Narration gedeutet werden, die von denen konstruiert wird, die Aids überlebt haben bzw. von der Immunschwächekrankheit verschont wurden:
Increasingly queer postcolonial narratives give voice […] to characters who have survived trauma by having them articulate their histories without sole recourse to linguistic forms or narrative structures, these histories are expressed through subtle bodily gestures, ex-centric sexual acts and a mélange of sensory evocations.[32]
Das vom Aids-Überlebenden unausgesprochene Trauma sowie der offensichtlich performative Charakter von Kisiels Erinnerungen widersetzen sich der Unwiederholbarkeit und der Einzigartigkeit des Ereignisses. Die gescheiterten Reinszenierungen seiner Performances durch Radziszewski verweisen zudem auf die immanente Performativität der Produktion von Geschlechtsidentität und sind selbst als ästhetische Akte zu erkennen, zumal sie auch auf andere künstlerische Werke referieren. Bei aller Ähnlichkeit mit den Holocaust-Videozeugnissen scheinen gerade die Differenzen interessant zu sein, die sich insbesondere in Radziszewskis Herangehensweise an die Theatralität offenbaren. Im Fall des Post-Holocaust-Zeugnisses verbindet sich die Theatralität meist mit dem Begriff des ›acting‹, das man – wie Hanna Marciniak suggeriert – auf zweierlei Art verstehen kann. »Einerseits geht es um das psychoanalytisch verstandene Ausagieren eines Traumas (acting out), das auf der Wiederholung seiner Symptome beruht«.[33] Diese Prozedur kann man als Form einer kompulsiven Wiederholung der Ereignisse (»compulsively repeating the past«) betrachten, die in einer unbestimmten Beziehung zur Ritualisierung verbleibt.[34] […]
Während die Theatralität im Post-Holocaust-Zeugnis eine Art Stütze der Artikulation derer darstellt, die infolge der traumatischen Erfahrung nicht imstande sind, selbst zu sprechen, so wird im Werk Radziszewskis die Theatralität zum emanzipatorischen Vehikel, das die Integrität der Psychoanalyse und der Traumaforschung zerschlägt, in deren Rahmen der Post-Holocaust-Diskurs um das Zeugnis funktioniert. Die Aktion Hyacinth wird von Kisiel (und auch von Radziszewski) zwar als repressiver Moment in der Geschichte der homosexuellen Kultur in Polen erkannt, zugleich aber als ein zum Handeln mobilisierender Wendepunkt dargestellt, der Sexualität und Kreativität als Abwehrmittel gegen Gewalt und Unterdrückung zu befreien vermochte. Der emanzipatorische und zugleich performative Aspekt des Zeugnisses wird durch Kisiels stilisierte Oralität, spezifische Gestik und nichtnormative Körperhaltung betont. Kisieland stellt auf diese Weise nicht nur die Theatralität des Bezeugens aus, sondern verweist auch auf die performative Kraft des Queer-Zeugnisses, die im Nichtausgesprochenen und Körperlichen liegt. Aus dieser Sicht erweist sich die das Zeugnis begleitende Serie von Reenactments als eine besondere Form der Wiederholung, die die Geschichte der Queer-Körper zu unterstützen sucht. Diese Praxis bildet nämlich eine nicht-identitäre repetitive Ausdruckform, die sich durch nonverbale Theatralität definieren lässt:
Theatricality – by which I mean to reference something theatrical, or something of (or reminiscent of) the theatre – is relative to mimesis, simulation, doubling, imitating, copying, even if not identical. Identicality is already undone in all of these words, as they are all words for the side-step operation by which one thing stands in for another thing, either as the same or as almost the same but not quite. There is something, too, of queerness in this slip and slide. Queer time, the jump of affect, and temporal drag are all phrases employed in this book at regular intervals. So is again and again.[35]
In dieser dem Post-Holocaust-Diskurs gegenüber bedeutenden Verlagerung vollzieht sich eine Veränderung der Rolle des Schweigens im Queer-Zeugnis: Es handelt sich nämlich nicht nur um das Unaussprechbare des Traumas, sondern auch um den bewussten Willen, über in ihrem Kern schwer beschreibbare und sagbare Dinge zu schweigen. Das Aussprechen und Beschreiben erscheinen in einem Queer-Zeugnis demnach weder als wahrheitsstiftende Kommunikationsformen noch als therapeutische Maßnahmen gegen tiefe körperliche und seelische Verletzungen. Da die nichtnormierte Sexualität ihre Spuren gerade im Körper hinterlässt, der trotz jeglicher Repressionen v. a. als Ort der Emanzipation verstanden wird, werden die der Gegenöffentlichkeit zuzuordnenden Ereignisse und Verhaltensweisen ebenfalls durch die körperliche Praxis aufgerufen und wiedergegeben. Das Queer-Zeugnis, auf dessen Basis die homosexuellen ›Vorfahren‹ von Radziszewski konstruiert werden, wirkt somit auch als Form der Kontinuität, die nicht biologisch, patrilinear, sondern (sub-)kulturell begründet ist. Es handelt sich dabei also nicht um ein körperliches Gedächtnis, sondern eher um ein Körper-Archiv,[36] das das Konzept transkultureller und transgenerationeller Erinnerung mit konstruiert. Die Spuren des Schweigens im körperbasierten Zeugnis der Performance können zwar für die meisten Beobachter unsichtbar bleiben, was aber nicht bedeutet, dass das, was nicht ausgesprochen oder nicht explizit wiedergegeben wird, einfach verschwindet, wie José Esteban Muñoz in seinem Essay »Ephemera as Evidence« eindringlich aufzeigt. Indem er sich auf die »structure of feeling« von Raymond Williams stützt, versucht Muñoz gleichzeitig zu zeigen, wie Spuren und Überreste aller Art zum Kommunikationsmedium der (Geschichte der) Andersartigkeit werden:
Ephemera, as I am using it here, is linked to alternate modes of textuality and narrativity like memory and performance: it is all of those things that remain after a performance, a kind of evidence of what has transpired but certainly not the thing itself. It does not rest on epistemological foundations but is instead interested in following traces, glimmers, residues, and specks of things. It is important to note that ephemera is a mode of proofing and producing arguments often worked by minoritarian culture and criticism makers.[37]
Indem Muñoz flüchtige Erscheinungen, die in der normativen Kultur keinen Beweis darstellen können, als wichtige Argumente in der Geschichtsschreibung minoritärer Gemeinschaften betrachtet, formuliert er indirekt auch – ähnlich wie Radziszewski in seiner künstlerischen Praxis – die Idee der emanzipatorischen Performance als Queer-Zeugnis. Im Angesicht seiner Theorie lässt sich das Queer-Zeugnis nicht nur als spurenhafter Beweis oder als Spur des Selbstverständnisses einer spezifischen gesellschaftlichen Randgruppe definieren, sondern als alternative Möglichkeit des Sehens: als eigentümlicher Code, der nur aus dieser bestimmten Perspektive – der Minderheitenperspektive, die hier paradoxerweise als privilegiert erscheint – vollständig dechiffrierbar ist.
Die lange Version des Textes wurde im Sammelband Testimoniale Strategie, (Hg.) Dominika Herbst, Magdalena Marszałek, Kodmos, Berlin 2019 veröffentlicht. www.kulturverlag-kadmos.de/buch/testimoniale-strategien.html
Bilder: Kisieland, www.karolradziszewski.com