Kunstwerk des egalitären Austausches. Die Robert-Walser-Skulptur von Thomas Hirschhorn

Text: Léonie Koch

Thomas Hirschhorn schafft skulpturale Werke, die Züge der Rhizomtheorie von Gilles Deuleuze und Félix Guattari aufweisen. Das Rhizom nach Deleuze und Guattari beschreibt ein Netzwerk, in dem es keine Hierarchien und feste Positionen gibt und alles mit allem verbunden ist. Diese Charakteristika greift der Schweizer Künstler in seinen Arbeiten auf. Es sind oftmals begehbare Skulpturen, ein Erinnerungssystem aus verschiedenen Elementen, das sich rhizomartig verzweigt, nach neuen Bezügen, Verbindungen, Verkettungen und Synapsen tastet – ein offenes soziales Kunstwerk im öffentlichen Raum. Seine Kunst ist als ein demokratischer Schaffensprozess zu verstehen und seine Materialien sind einfach. Das ansonsten Missachtete, Verworfene will Hirschhorn zum Sprechen bringen. Seine Skulpturen sind vorläufig und temporär und verändern sich stets.

In seinen Werken verwendet er unterschiedliche Materialien. Durch die Öffentlichkeit schafft er Synapsen zwischen verschiedenen Menschengruppen. Es ist ein Ort der Begegnung, bei dem alle gleich sind und alles enthierarchisiert ist. Er arbeitet in Fieldworks mit Leuten zusammen, die sonst nur wenig Bezug zur Kunst und Kultur haben und als Randständige (Arbeitslose, Junkies, Alkoholiker*innen) gelten. Wie beim Rhizom gibt es in seinen Arbeiten weder einen Rand noch ein Aussen, genauso wenig existiert ein fixiertes und positioniertes Zentrum. Hirschhorns Installationen wuchern in den Raum. Es ist eine chaotische Verkettung von Alltagsdingern, Collage aus unterschiedlichen Materialien.

Vom 15. Juni bis zum 8. September 2019 fand die Ausstellung „Be an outsider! Be a hero! Be Robert Walser!“ in Biel statt. Diese aus gesammelten Utensilien zusammengebaute, begehbare skulpturales Gebilde auf dem Bahnhofvorplatz war eine Hommage an den aus Biel stammenden Literaten Robert Walser (1878-1956). Sie wurde im Rahmen der 13. Plastikausstellung in Biel auf Wunsch Hirschhorns im öffentlichen Raum realisiert. Das Anderssein und randständige Leben, das auch Robert Walser führte, wurde in die Aufmerksamkeit der Besucher*innen gerückt, indem Hirschhorn die Skulptur an einen der geschäftigsten Orte des alltäglichen Lebens, dem Bahnhof, positionieren liess. Denn am Bahnhof kommen alle Gesellschaftsschichten und Personengruppen bewusst oder unbewusst vorbei. Die Skulptur war 86 Tage und 1’032 Stunden für alle Passant*innen und Besucher*innen frei zugänglich und besteht aus miteinander verflochtenen Holzpaletten, einem Patchwork von Hütten, Podesten und Bühnen. Hirschhorn liess für bereits für andere seiner Skulpturen Wegwerfprodukte und Abfall verwerten und gab diesen durch die Verwendung in seinen Installationen wieder einen neuen Sinn. Die Skulpturen sind deshalb eine reichhaltige und dennoch ökologische, mit der Begegnung jeder einzelnen Person wandelbare Gebilde. Mitmachen ist erwünscht!

Insbesondere „Be an outsider! Be a hero! Be Robert Walser!“ war ein chaotisches Zentrum der Begegnung, ein Provisorium, das an besetzte Häuser oder Favela-Siedlungen erinnert, bekritzelt und mit Transparenten behängt. Es gab verschiedene Ein- und Ausgänge, keinen chronologischen Aufbau und kein Zentrum. Ausstellungen, Lesungen und Happenings fanden statt, neben einer Bibliothek, einer Cantina, einer Bar wurden auch Screenings von Filmen und Dokumentationen in visuellen und audiovisuellen Formaten umgesetzt. Am Abend wurde die Skulptur von Leuten für einen Apéro genutzt, für Jugendliche wurde sie zum Treffpunkt. Die verflochtenen Paletten und alle anderen Montagen dienten als Plateau des gesellschaftlichen und kulturellen Austausches und der Begegnung. So entwickelte sich die Skulptur zu einem Forum des egalitären Austauschs und Miteinander-Seins.

 

Mehr Informationen unter:

https://www.republik.ch/2019/09/07/architektur-des-austauschs
https://www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/robert-walser-skulptur-ein-lebendiges-kunstgebilde
https://www.aargauerzeitung.ch/mediathek/videos/1_bfnvyepr