Wer hätte das gedacht? Kaum wurde der große Sieg über die Pandemie verkündet, begannen schon die Probleme. Bevor die Impf-Aktion richtig losgehen konnte, kam schon alles zum Stillstand. Pfizer legte eine Lieferpause ein mit der Erklärung, dank dieser die Produktionskapazität der Fabriken erhöhen zu können. Moderna verhält sich ähnlich, wenn auch in kleinerem Maßstab. AstraZeneca ist sogar noch weiter gegangen und hat seine Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Union schlicht abgestritten. Was sollen wir von diesen Zusicherungen halten, von plötzlichen Unterbrechungen der Versorgung, die nicht mit den Behörden abgesprochen sind? Ist dies ein Zeichen extremer Inkompetenz, Unfähigkeit oder vielleicht mangelnder Vorstellungskraft? Spaß beiseite! In den Vorständen der Pharmafirmen sitzen schließlich keine Idioten, und zählen können sie mit Garantie. Es war mehr als genug Zeit, um die Fließbänder der Produktion gut vorzubereiten und mehr als genug Geld, um bei Bedarf neue zu bauen. Was wir sehen, ist vielmehr eine spektakuläre Zurschaustellung von Dünkel und einem Gefühl der Straflosigkeit seitens der Chefs von Konzernen, denen die Welt die Gesundheit von Milliarden menschlicher Wesen anvertraut hat. Dies ist ein Symptom einer Krankheit, die genauso, wenn nicht sogar noch gefährlicher ist, als diejenige, die die Welt heute bekämpft.
Diese Krankheit hat viele Namen, aber sie alle haben die Kommodifizierung der öffentlichen Gesundheit als gemeinsamen Nenner. Alles begann in den 1990er Jahren, als die Regierungen die Gesundheitssysteme und die Pharmaindustrie schnell privatisierten und damit einen der lukrativsten Märkte der Weltwirtschaft dem Kapital überließen. Die auf diesem Markt agierenden Unternehmen genießen nicht nur das Privileg der „starren Nachfrage“ (d.h. eines hohen und niemals sinkenden Bedarfs), sondern die unter der Schirmherrschaft der WTO durchgeführten Liberalisierungen haben auch dazu geführt, dass der Markt unter mehreren großen Akteuren aufgeteilt wurde, während die Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums (TRIPS) ihnen ein Monopol auf die Technologien verschafft haben, die für die Herstellung wichtiger Medikamente benötigt werden. Seit fast drei Jahrzehnten verdienen die Pharmakonzerne massiv an diesen Vorschriften, und jeder Versuch, generische Medikamente und Behandlungen (genauso wirksam, aber um ein Vielfaches billiger als die der Konzerne) in Indien oder Südafrika zu produzieren, hat Wutanfälle und Gerichtsprozesse hervorgerufen. Dieses System hat zur Bildung einer wahren pharmazeutischen Apartheid geführt. Big Pharma beteiligt sich ausschließlich an den gewinnträchtigsten Unternehmungen. Deshalb ist die Innovation in der Branche seit Jahrzehnten stark rückläufig. Statt neuer Medikamente werden die gleichen einfach unter anderen Namen verkauft. Die harte Gewinn- und Verlustrechnung ist auch der Grund für die lange Vernachlässigung der Arbeiten an Medikamenten und Impfstoffen für Krankheiten, die im globalen Süden auftreten, z.B. Malaria, früher AIDS. Gleichzeitig floriert der Markt der Mittel, die die Jugend der reichen Bewohner des Nordens verlängern sollen.
Die Pandemie bringt ein weiteres Element in dieses System. Die reichsten Länder haben die Arbeit an Impfstoffen finanziert, indem sie private Labors mit Milliardenbeträgen subventioniert und den Unternehmen, denen diese Labors gehören, Verträge verschafft haben, welche noch größere Gewinne versprechen (allein Pfizer und BionTech werden dieses Jahr 13 Milliarden Dollar verdienen). Die Staaten bezahlen heute eine gepfefferte Rechnung für die von ihnen finanzierten Impfstoffe. Die Konzerne verdienen doppelt. Diese Lösung wird natürlich Hunderten von Millionen Menschen in Europa und Nordamerika Zugang zu kostenlosen Impfungen verschaffen. Aber es schafft auch eine unüberwindbare Barriere für Milliarden von Menschen im Süden. Die meisten Länder in Afrika, Südamerika und Asien können es sich nicht leisten, für eine Dosis des Impfstoffs von Pfizer oder Moderna zehn, zwanzig, dreißig Dollar zu bezahlen. AstraZeneca ist hier die lobenswerte Ausnahme, aber die Mengen, in denen es in Europa oder Kanada geordert wurde, macht es für die ärmeren Länder praktisch unerreichbar. In einer solchen Situation sind die einzige Rettung für sie chinesische und russische Impfstoffe, welche ihnen die Barbaren, die sich als Verteidiger westlicher Werte ausgeben, gerne vorenthalten würden. Jedoch ist das Aufbrechen der Impfstoff-Apartheid das A und O des gesamten Kampfes gegen das Virus. Denn, wie UN-Untergeneralsekretärin Winne Byanyima betont:
„Je länger das Virus unter Bedingungen ungleicher Immunität überleben kann, desto wahrscheinlicher werden Mutationen, die die Impfstoffe, die wir haben, und die Impfstoffe, die einige Menschen in reichen Ländern bereits erhalten haben, weniger wirksam oder unwirksam machen könnten.“[1]
Die aktuelle Situation illustriert das Ausmaß der verpassten Chancen. Als die Regierungen im letzten Frühjahr den Kapitalismus ausschalteten, schien es, dass kein vernünftiger Mensch das Schicksal der Welt in die Hände der Privatwirtschaft legen würde. Und doch taten sie es, obwohl man öffentliche Forschungsinstitute subventionieren und staatliche Impfstofffabriken hätte einrichten können. Die Geduld mit den Konzernen sieht jetzt wie ein bequemes Alibi aus, um das eigene Versagen im Angesicht der Pandemie zu vertuschen. In Polen ernten wir die Früchte der Gleichgültigkeit der Regierung, ihrer Inkompetenz und der Tatsache, dass sie politische Interessen über die Bedürfnisse der öffentlichen Gesundheit stellt. Der starke Anstieg der Todesfälle im Herbst 2020 ist die Folge der Worte des Premierministers, der Epidemie-Entwarnung gab, des Kokettierens des Präsidenten mit den Impfgegnern und einer ganzen Reihe von Versäumnissen der Regierung im Sommer. Der Lockdown-Erfolg des Frühjahrs war umsonst. Tausende von damals Verschonten wurden später (statistisch gesehen) zum Tode verurteilt. Ja, verurteilt, denn es gibt nicht den geringsten Grund zu glauben, dass die Regierung, die die Bedürfnisse des Gesundheitswesens ignorierte und die Schulen im September ohne jegliche Vorbereitung öffnete (denn „Schulwände infizieren nicht“, wie ein gewisser Minister zu sagen pflegte), nicht wusste, dass sie so die zweite Welle der Epidemie provozierte, genauso wie sie heute, indem sie Einkaufszentren und Schulen öffnet (ohne vorher die Lehrer zu impfen), genau weiß, dass sie eine dritte Welle verursacht.
Diese von der Regierung verschuldete Katastrophe sollte durch Impfstoffe überdeckt werden… doch diese trafen nicht ein. Die bei dieser Gelegenheit geäußerte Empörung über die Konzerne wird jedoch nur eine Ablenkung vom wirklichen Problem bleiben, bis sie durch die Empörung über die Staaten (einschließlich unseres eigenen) ergänzt wird, die Big Pharma herangezüchtet haben, während sie gleichzeitig die öffentlichen Gesundheitsausgaben kürzten.
Polnische Orginalversion publiziert in Le monde diplomatique – edycja polska, Nr. 1 (167), 2021. https://monde-diplomatique.pl/pandemiczny-apartheid/
[1] Winnie Byanyima, „A global vaccine apartheid is unfolding. People’s lives must come before profit”, Guardian, 29.01.2021.