«Photos are windows that offer a clear view of the world as it is, or more precisely, as it was.»[1] Susan Sontag (1933–2014)
Abstandhalten, Maskenpflicht, Ausgangssperre… Das ist kein Horrorfilm, das ist unsere Realität. Im Jahr 2020 leidet die ganze Welt unter einem gefährlichen Virus und alle Menschen sind davon betroffen – wir sind alle wegen des Virus in unserem Alltagsleben eingeschränkt. In meiner Fotoserie will ich mithilfe des Motivs von Fenstern versuchen, unsere heutige Zwangssperre wiederzugeben.
Fenster in der Geschichte der Kunst
Fenster als ein architektonisches Aussen- oder Innenelement spielten im Alltagsleben historisch zunächst eine geringe Rolle. Sie waren klein, kaum sichtbar und wurden nur in der Sakralkunst verwendet – ein Licht Gottes, das seine Präsenz in einem Tempel zeigte. Die christlichen Kirchen im XV–XVI Jahrhundert benutzten drei nebeneinanderstehende Fenster, um die Heilige Dreifaltigkeit zu demonstrieren. Erst mit der Renaissance wurde die sakrale Rolle der Fenster als „spirituelle Vision‟ oder als „Augen der Seele‟ verstanden – Künstler setzten das Fenster als Verbindung zwischen den Menschen und der materiellen Welt ein. Leon Battista Alberti (1404–1472) zum Beispiel, einer der führenden Theoretiker der Renaissancekunst, betrachtete die Malerei als offenes Fenster zur anderen Welt; die Malerei wird durch die Rahmengrenzen angezeigt wie durch ein Fenster.[2]
Die Künstler jeder Epoche beschäftigten sich in ihrer Komposition mit dem Fenster, das einen Zugang zur Aussen- oder Innenwelt vermittelte: entweder in Form eines Rahmens, welcher das Kunstobjekt umfasste und dem Betrachter einen Einblick in die andere, magische, farbige Welt ermöglichte, oder als ein Element des Gemäldes, das eine weitere Geschichte erzählen konnte. Aber nicht nur Maler verwendeten die Fenster als ein Übermittlungssymbol in ihrer Kunst – sobald die Fotografie im XIX Jahrhundert erschien, begann sich das Fenster als starke Inspirationsquelle durch ihre Geschichte zu ziehen und etablierte sich als ein wichtiges Element.
Das Fenster ist das erste Motiv, das im übertragenen Sinne mit dem fotografischen Prozess selbst verbunden werden kann und auch symbolisch mit der Mechanik der Fotografie zusammenhängt. Wie die Kuratorin Karen Hellman in ihrem Buch The Window in Photographs schreibt, ist „the opening‟ oder „the viewfinder‟, durch welches die Bilder in der Kamera gesehen und aufgezeichnet werden, wie „the opening‟ bei seinem Vorfahren, der Camera obscura[3]. Als solches ist ein Bild eines Fensters ein „view of a view‟.[4]
Lockdown hinter einem Fenster nach dem Beispiel von Kossakowski/Rolkes My was widzimy (Wir sehen euch) von 1968/69
Als künstlerische Forschungsarbeit kreierte ich die Fotoserie Lockdown hinter einem Fenster, in welcher die Fenster die Menschen im alltäglichen Leben trennen. Die Inspiration für meine Arbeit erhielt ich aus der Fotoinstallation My was widzimy (Wir sehen euch) von Eustachy Kossakowski und Tadeusz Rolke aus dem Jahr 1968/69 respektive deren fotografischer Dokumentation aus dem Archiv der Galerie Foksal.
Die Installation My was widzimy zeigt die Fotoporträts der Gründer der Galerie Foksal in Warschau, die 1969 von Tadeusz Rolke in einem der Galeriefenster mit Blick auf den Innenhof platziert wurden.[5] Tadeusz Kantor, Hanna Ptaszkowska, Zbigniew Gostomski, Henryk Stazżewski, Maria Stangret, Edward Krasiński und Wiesław Borowski sind die Künstler, die aus dem Fenster die Passanten anblicken. Die Fotografien der Künstler, eingefügt in ein Fenster, vermitteln das Gefühl, dass nicht nur sie, sondern die ganze Galerie den Betrachter anschaut.
Die Figur des Fensters spielt in dieser Installation die Hauptrolle. Die Bildserie der acht aus dem Fenster blickenden Künstler lässt sich räumlich und zeitlich wie eine filmische Erzählung lesen, das visuelle Erfassen als ein haptisches Ergreifen inszeniert. Hier wird das Thema des Sehens und Gesehen-Werdens aufgegriffen, ein Spiel zwischen dem Betrachter und den Künstlern. Die Glasscheibe ist der Hauptspieler in der Installation – sie ist der Vermittler, über den die Blicke der Dargestellten, der Galerie und der Strasse laufen. Wie Thomas Skowronek in seinem Buch Marktgestalten in Sorge: Kunstgalerien und ökonomische Ordnungen in Polen und Russland (1985–2007) schreibt: „My was widzimy zitiert so auf ironische Weise Situationen der Fremd- und Selbstbeobachtungen und ihre blinden Flecke.‟ Neben das Sehen tritt somit auch das Nicht-Sehen, der versperrte Blick. Polnische Künstler, wie auch ganz Polen, waren in den 1960er Jahren und bis zur politischen Wende um 1989 unter parteipolitischer Kontrolle, welche ihre Bewegungen, Leben und Kunstwerke einschränkte und nur wenige, kontrollierte Verbindungen mit der Aussenwelt erlaubte.[6]
Betrachtet man die Fotografie der Installation, so ist My was widzimy von einer Seite mit dem offenen Fenster eine Art Einladung in die polnische künstlerische Welt. Im oberen Teil des Fensters steht der Name der Galerie, darunter ist das Fenster in acht Teile geteilt. Der Betrachter versteht nicht sofort, dass die Menschen hinter dem Glas nur die Fotoporträts sind – sie sind nicht echt. Jede Gestalt vertritt eine einzigartige Position – ein paar schauen uns direkt an, die anderen versuchen den Augenkontakt zu vermeiden. Das Einzige, was sie vereint, sind ihre Handflächen, die sichtbar auf eine Rückseite der Glasscheibe hinweisen und das Fenster der Galerie noch mehr für die Aussenwelt aufzumachen versuchen – die polnischen Künstler wollen endlich gesehen werden.
Lockdown in der Schweiz
Seit Anfang März 2020 befindet sich die Bevölkerung der Schweiz im Lockdown – ein Virus sperrt uns ein. Dies hat unser alltägliches Leben schwer betroffen und verändert. Ich finde, dass wir uns heute in einer ähnlichen Situation wie die polnischen Künstler 1968 befinden. Die Menschen sind nicht mehr frei – wir sind wie gefangen hinter einem Fenster. Die Fenster sind überall: als Plexiglasscheiben in den Läden, als Bildschirme in der Onlinekommunikation in den Büros oder in den Schulen, als Plastikschutz des Gesichtes im Alltagsleben usw. Die Grosseltern dürfen ihre Enkelkinder nicht mehr besuchen und Freunde dürfen nicht mehr abmachen…
Mithilfe meiner Fotoserie will ich das Leben unter einem Lockdown, beeinflusst von einem Virus zeigen. Die Fotos sind schwarz-weiss wie die Installation von Kossakowski und Rolke und wurden fast alle im Kanton Schaffhausen aufgenommen. Die Fotos mit den Nummern 1, 5, 7 und 8 sind Inszenierungen, während die Fotos 2, 3, 4, 6 spontan unterwegs entstanden. Das Fenster aus der Installation Wir sehen Euch ist in acht Teile geteilt, deswegen habe ich mich entschieden, acht Fotos zu präsentieren.
Die Schwierigkeiten, die ich bei meiner Fotoserie hatte, waren, die Models für eine Inszenierung zu finden, wie auch die heutigen Einschränkungsmassnahmen. Viele Models, die ich angefragt habe, haben abgesagt, da sie Angst hatten, sich mit dem Virus anzustecken. Die richtigen Kompositionen zu erwischen war auch nicht einfach – man musste die ganze Zeit bereit sein, um ein Foto schnell und fokussiert zu machen. Weil es nicht empfohlen wurde, sich ausserhalb des Hauses aufzuhalten wie auch sich frei zu bewegen, war es schwierig, die richtigen Momente für die Fotoserie zu finden. Die Lichtverhältnisse waren ebenfalls nicht einfach, da über Wochen hinweg die Sonne schien und auf diese Weise Komplikationen beim Fotografieren verursachte.
Alle Fotos habe ich mit der Kamera von meinem Handy Huawei P30 Pro aufgenommen. Dieses Modell ist mit drei Leica-Kameras ausgestattet. Alle drei Module können Farbbilder im JPEG und im RAWFormat aufnehmen. Die Hauptoptik hat einen 1/1,7 Zoll grossen Sensor mit einer Auflösung von 40 MP und einem speziellen Farbfilterlayout mit Clustern aus 2 x 2Pixeln für jede Farbe. Das P30 Pro arbeitet mit Rot, Gelb und Blau statt mit Rot, Grün und Blau, die in Sensoren mit konventionellen BayerFiltern im Einsatz sind. Die neue Farbkombination erhöht die Lichtempfindlichkeit des Sensors. Der schwarz-weisse Effekt wurde mit dem Programm Photo Studio und darin enthaltenem Filter Gray 1890 erreicht.
Mit meiner Fotoserie will ich das Leben während des Lockdowns und der Quarantäne zeigen. Die Fenster sind nicht mehr nur ein Attribut des Interieurs – sie sind ein unverzichtbarer Teil unseres Lebens geworden. Sie schützen Menschen nicht nur vor dem schlechten Wetter, sondern auch vor den anderen Menschen. Ein persönlicher Kontakt ist quasi etwas Schlechtes und Gefährliches geworden – ab jetzt muss ein transparentes Glas die Menschen voneinander trennen.
Literaturverzeichnis:
Hellman 2013: Karen Hellman, The Window in Photographs, in: J. Paul Getty Museum (Hg.), At the Window: The Photographer’s View, Ausstellungskatalog Los Angeles (1.10.2013–5.1.2014), Los Angeles 2013, S. 1.
Skowronek 2018: Thomas Skowronek, Markt Macht Geschichte; in: Robert Born / Michaela Marek / Ada Raev (Hg.), Marktgestalten in Sorge: Kunstgalerien und ökonomische Ordnungen in Polen und Russland (1985–2007), Köln 2018, S. 173–178.
URL artchive: Webseite der Art-News, Art-Smarts, Enzyklopädie, The window as a symbol in art. Portal to other worlds, https://artchive.ru/encyclopedia/2740~The_window_as_a_symbol_in_art (Abgerufen am 20.04.2020).
URL news o. pl: Webseite des O.pl – Partner w Kulturze, Mirosław Bałka na wylot przez Foksal, http://news.o.pl/2014/09/09/miroslaw-balka-luftzug-galeria-foksal-warszawa/#/ (Abgerufen am 25.04.2020).
Quellennachweise Bildmaterial:
Rolke, Tadeusz, My was widzimy [Wir sehen euch], Fotografie der Installation von Eustachy Kossakowski und Tadeusz Rolke, 1968/69, Galeria Foksal, Warschau. Quelle: Archiwum Galerii Foksal.
Egli, Valeria, Lockdown hinter einem Fenster, 8 Fotografien, Schaffhausen. Quelle: Autorin.
[1] Susan Sontag zitiert nach Karen Hellman, in: The Window in Photographs, S. 12.
[2] Webseite der Art-News, Art-Smarts, Enzyklopädie (Abgerufen am 20.04.2020).
[3] Eine Camera obscura (lat. camera „Kammer“; obscura „dunkel“) ist ein dunkler Raum mit einem Loch in der Wand, die oft als Metapher für die menschliche Wahrnehmung und für die Herstellung von Bildern verwendet wird.
[4] Hellman 2013, S. 1.
[5] Webseite des O.pl (Abgerufen am 25.04.2020).
[6] Skowronek 2018, S. 175–177.