Im transgenerativen Prozess. Die Angst als Drehmoment

Text: Jeannette Fischer

Nicole Reiser, 30 Jahre alt, sucht eine Psychoanalytikerin auf, weil sie unter Panikattacken und Angstzuständen leidet. Sie steht kurz vor dem Ende ihres zweiten Studiums. Die letzte Phase verläuft harzig, ist immer wieder unterbrochen von tagelangen Rückzügen, in denen sie ihr Zimmer nicht mehr verlässt, ausser um zum Kühlschrank und auf die Toilette zu gehen. Sie wäscht sich nicht, isst wahllos alles durcheinander, auch telefonisch ist sie nicht mehr zu erreichen. Die Mitbewohner*innen lassen sie in Ruhe: Sie kennen das.

Nicole Reisers Eltern haben sich aus subproletarischen Verhältnissen hochgearbeitet. Beide haben eine Lehre abgeschlossen, der Vater ist erfolgreich in seinem Beruf, die Mutter wollte ihre begonnene Karriere nicht weiterführen, sondern Kinder, eine Familie haben. Mit dem Heranwachsen der Kinder zog sie sich immer mehr in sich selbst zurück. Ihre Tochter fehlte wegen Panikattacken oft tagelang in der Schule. Weil sie sehr intelligent ist, holte sie den Schulstoff aber schnell wieder nach – und so pendelte sich ihr Leben zwischen Angst und Panik einerseits, einer enormen Lebensenergie und einem sehr kreativen Tatendrang andererseits ein.

Nicole Reisers Mutter hat Arbeit und Karriere nicht wieder aufgenommen – niemand weiss, warum. Als die Tochter 15 Jahre alt war, ging der Vater eine neue Beziehung ein und trennte sich von seiner Frau. Auf Wunsch seiner drei Kinder übernahm er das Sorgerecht.

 

Das einzig Verbindende ist die Differenz

Nicole Reiser sagt in der Psychoanalyse, sie habe keine Kraft mehr, um die Schwankungen in ihrem Leben zu ertragen. Keine Kraft mehr, um sich gegen die Angstzustände zu wehren, ihnen etwas entgegenzusetzen. Ihre Energie sei bis jetzt von der Auflehnung gegen das Elternhaus gespeist worden und nun aufgebraucht. Die Psychoanalyse vermag sie anfangs zu beruhigen, sodass sie das Studium abschliessen und arbeiten kann. Doch Angst und Panik bleiben hartnäckig bestehen. Fortan geht es darum, die Ursache der Symptome zu erkennen, um Nicole Reiser aus diesem Teufelskreis auszulösen.

Die feministische psychoanalytische Bindungstheorie geht von der intersubjektiven Beziehung aus, einer anzustrebenden nicht-hierarchischen Bindung, die zwischen mindestens zwei Menschen besteht und auf die Gemeinschaft und Gesellschaft hochgerechnet werden kann. Im Unterschied zu einer hierarchischen, begründet sich die intersubjektive Beziehung auf der Differenz, die Differenz eines Ich zum anderen Ich. Das andere Ich ist – nicht nur in Bezug auf sein Geschlecht – per se different zu meinem Ich, es ist also nicht ich. Die Anerkennung dieser Differenz ist sehr wichtig, weil sie in der Beziehung mit einem Gegenüber bestätigt, dass das einzig Verbindende die Differenz ist.

In hierarchischen Beziehungen, das heisst in Bindungen, die von einem Gefälle geprägt sind – und das sind die meisten –, wird diese Differenz mit der Begrifflichkeit des Defizits ersetzt. Demzufolge weist das eine Ich gegenüber dem anderen Ich ein Defizit auf. Auf diese Weise wird die Bindung hierarchisch organisiert. Erst in dieser Form der Bindung werden Rollen zugewiesen, werden unter anderem geschlechtsspezifische Rollen definiert und tradiert. Eine Rolle definiert das Verhältnis zu einem anderen Ich und zur Gesellschaft, und in der Identifikation mit der Rolle auch das Verhältnis zu sich selbst. Rollenzuschreibungen sind Unterdrückungs- und Repressionsinstrumente, garantieren jedoch die Akzeptanz in der Gemeinschaft. Mit einer Anpassungsleistung können wir den Ausschluss aus dieser Gemeinschaft verhindern beziehungsweise den Einschluss garantieren und damit die Angst vor dem Verlust der Anerkennung beruhigen.

Werden diese Anpassungsleistungen nicht mehr erbracht, wird ersichtlich, dass ein Beziehungsnarrativ fehlt, das über diese Rollenzuschreibungen hinwegtragen und das eigene Ich, auch das Ich in Gemeinschaft, sichern kann. So zieht sich Nicole Reisers Mutter aus der Welt zurück, obwohl sie begabt und gesund ist. Sie verfolgt ihre Karriere nicht weiter, gibt ihren Beruf, den sie passioniert ausgeübt hatte, auf. Und die Tochter bricht mit ihr ein, stürzt mit in diese Beziehungsleere, in diesen Abgrund. In der Gemeinsamkeit ihrer Ängste finden sich die beiden wieder. Obwohl Angst ein trennendes Moment ist, wird es hier zu einem verbindenden.

 

Angst lähmt

Angst ist kein Gefühl, das wir brauchen, um uns vor Gefahren zu schützen – obwohl das viele behaupten. Die Furcht genügt uns als Schutz: Sie ermöglicht als instinktive, die Aufmerksamkeit erhöhende Reaktion entsprechende Abwehrmassnahmen. Angst hingegen ist das Symptom eines Beziehungsbruches, in dem die «Anerkennung des Anderen als anders» gebrochen und in ein Machtverhältnis umgewandelt wird. Dieser Bindungsbruch geht mit dem Verlust des Gefühls der Aufgehobenheit einher.

Angst bedeutet eine Trennung von sich selbst und der Welt. Sie führt die Ich-Entfremdung, die in der Zuweisung einer Rolle und in der Identifikation des Ich mit dieser Rolle bereits besteht, weiter. Weil eine Rolle den Menschen fixiert, ist er der Freiheit beraubt, sein Ich entfalten zu können, wachsen zu können, sich zu entwickeln und an der Gestaltung der Welt mitzuwirken.

Die Angst bindet die libidinösen Kräfte, die Lebensenergie, die ich in der Folge die Aggressionen im Dienste des Ich nenne, diejenigen Kräfte also, die uns ermöglichen, uns zu wehren, uns für unser Ich einzusetzen, ehrgeizig zu sein, zu geniessen. Angst bindet sie zurück, worauf sie implodieren und unter anderem zu Depressionen, Essstörungen und Panikattacken führen können. In der Beziehungslücke sind diese Kräfte gebrochen: Auf der Unterlage einer Falltüre kann ein Ich sich nicht entwickeln. Die Anpassung an die zugeschriebenen Rollen vermag darüber hinwegzutäuschen und hinwegzuhelfen, gleichzeitig versorgt sie den bestehenden Machtdiskurs mit «Stabilität». Denn Anpassung erfordert Unterwerfung und einen mehr oder weniger grossen Anteil an Selbstaufgabe. Im Austausch dafür gewährleistet sie einen Schutz vor Beziehungsverlust. Obwohl hierarchische Beziehungen per se gewalttätig sind, vermögen sie die Angst vor dem Ausschluss aus Gemeinschaft zu beruhigen und die Unterwerfung als das kleinere Übel auf sich zu nehmen.

Mit der Anerkennung des Anderen als Nicht-Ich hingegen, in der intersubjektiven Beziehung, wird es möglich, ein Ich zu entwickeln. Weil das Ich keine feste Grösse ist, sondern sich nur in Beziehung zu einem und mehreren anderen Ich bilden und immer wieder neu bilden und verorten kann, sind wir auf Gemeinschaft angewiesen, ja von ihr abhängig. Hingegen ist die Idee, dass Ich eine fixe Grösse ist, die erreicht und anschliessend beibehalten, geschützt und verteidigt werden soll, letztlich nur mit tradierten Rollenzuschreibungen umsetzbar.

Es fehlt also ein Beziehungsnarrativ, das Aufgehobenheit in der Gemeinschaft verspricht, ohne auf Autonomie, auf die Entfaltung von Ich verzichten zu müssen. Ein Beziehungsnarrativ, das sich nicht am Defizit orientiert. Tradiert werden stattdessen Beziehungsbrüche, Beziehungslücken, die sich bei Frau Reiser in Angst und Panik ausdrücken und bei ihrer Mutter in einem Rückzug aus Gemeinschaft und beruflicher Entfaltung. Schläge und andere Gewaltakte sind Versuche, solche Brüche zu verhindern. Ich rechtfertige damit nicht Gewalt, sondern weise darauf hin, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt, ein Problem der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Und indem wir die uns zugeschriebenen Rollen übernehmen, fixieren wir diesen Machtdiskurs und leisten der Entwertung und Entfremdung von uns allen und der Individualisierung des Problems Vorschub. Nur im Narrativ einer intersubjektiven Beziehung werden diese Rollen obsolet, denn es geht um die Grundbedürfnisse des Menschen, die weder Aufschub noch Verzicht erlauben: nämlich aufgehoben zu sein in der Gemeinschaft, ohne auf Autonomie, Entfaltung und Wachstum verzichten zu müssen. Hier wird weder mit Schuld noch mit Angst gehandelt.

 

Schuldgefühle verbinden

Eine andere Möglichkeit, Beziehungen zu sichern, sind Schuldgefühle. Kaum jemand ist frei davon. Gerade hat Barbara Bleisch, Philosophin und Redaktorin der «Sternstunde», ein Buch darüber veröffentlicht mit dem Titel: «Warum wir unseren Eltern nichts schulden».

Die Beziehungen in einem Machtgefälle orientieren sich, wie bereits erwähnt, am Defizit. Schuldgefühle sind dabei unerlässlich, sie dienen der Beziehung als Bindemittel und Kitt. Mit Schuldgefühlen bestätigen wir die Hierarchie und schaffen ein defizitäres Verhältnis oder gleichen uns einem an. Ob wir «Schuldiger*innen» sind oder «Gläubiger*innen», ist nicht von Belang – beide Rollen sind dem Herrschaftsdiskurs inhärent und bestätigen, stabilisieren ihn. Wir machen laufend die Erfahrung, dass wir nur schwer aus unseren Schuldgefühlen herausfinden. Überall machen sie sich bemerkbar, in fast allen Beziehungen sind sie fester Bestandteil. Man kann die Schuld verleugnen, man kann sich von ihr lossprechen, man kann sie abarbeiten, man kann sie als gerechtfertigt anerkennen – der Versuch, einen Umgang mit ihr zu finden, lenkt von der Erkenntnis ab, dass es ihre Funktion ist, Bindemittel in hierarchischen Beziehungen zu sein.

 

Von der Schwierigkeit, den Diskurs des Defizites zu verlassen

Vor diesem Hintergrund funktioniert auch die Beziehung von Nicole Reiser mit ihrer Mutter. Ihre Angst ist Ausdruck einer Ruptur in dieser Bindung. Je älter die Tochter wird, umso mehr zieht sich die Mutter zurück. Nicht im Sinne eines Loslassens, eines Gehenlassens, sondern eines Bruches. Sie ist nicht mehr erreichbar für die Tochter, interessiert sich nicht mehr für sie, hat sie «abgehängt». Das Einzige, was die Beziehung aufrechterhält, sind die Bemühungen der Tochter – angetrieben von Schuldgefühlen –, der Mutter etwas zuliebe zu tun, sie zu entlasten, sie partizipieren zu lassen an ihrem Erfolg, der sich in der Zeit einstellt, in der sie nicht wie gelähmt in ihrem Zimmer liegt. Dieser Bruch ist einerseits begründet im fehlenden Beziehungsnarrativ, wenn die Rollen nicht mehr «tragen», wenn die Mutter aus ihrer Pflicht entlassen worden ist, und andererseits ist der Bruch aber auch ein Ausdruck des Neides: Der Verlust des Gefühls der Aufgehobenheit, das weiss auch die Mutter, beschädigt, bricht die Aggressionen im Dienste des Ich, die Tochter bleibt ohnmächtig eingeschlossen in sich und in ihrem Zimmer.

Die Schuldgefühle der Tochter sind ein Beziehungsangebot an die Mutter. Sie sind auch ein Schutz vor dem mütterlichen Neid und vor der Feststellung, dass für die Ablösung, die mit einem Rollenverlust einhergeht, keine Beziehungskonzepte vorhanden sind. Die Schuldgefühle vermögen die Angst vor einem endgültigen Bindungsbruch teilweise zu beruhigen. Die Beziehungslücke wird gefüllt mit der «Währung Schuld», die Beziehung innerhalb eines hierarchischen Narrativs ge-währt, eines Narrativs, in dem das Defizit zur Beziehungsgrundlage wird und damit zum Antrieb für Wettbewerb. Auch denjenigen zwischen Mutter und Tochter.

Es besteht kein Beziehungsnarrativ mehr für die Mutter: Weil sie von den Kindern nicht mehr gebraucht wird, zieht sie sich zurück. In sich selber eingeschlossen, vermag sie der Tochter keinen Bindungsboden mehr zu geben; ihr fehlt die Antwort auf die Trennung. Sie wird zu einer Mutter, der man etwas schuldig ist, die man aus Schuldgefühlen besucht, die sich verraten fühlt in ihrer Rolle. Es besteht kein Narrativ für die Tochter, die diese Leerstelle mit von Schuldgefühlen getriebenen Bemühungen zu überbrücken und zu füllen versucht.

Das Moment, das die Mutter tradiert, ist der Bruch der Beziehung anstelle der Trennung, der Ablösung von der Tochter ohne Beziehungsrückzug. Tradiert wird damit gleichzeitig der Bruch der Beziehung zu sich selbst, weil der klassischen Rolle der Mutter – nicht aber ihrer Funktion und Pflicht als Mutter – bereits eine Form der Selbstaufgabe inhärent ist. Dieser Bruch mit sich selbst muss gesühnt, gerächt oder belohnt werden. Die Schuld dafür liegt in den Händen der Tochter, die auch Kinder gebären wird – oder soll, so die Rollenerwartung.

Obwohl dieses Beispiel eine beachtliche Symptomatik aufweist, können wir nicht von uns weisen, dass unsere alltägliche Angst Hinweis ist auf Unterdrückung und Zuweisung von Rollen, von Geschlechterrollen, und damit Teil unseres Beziehungs- und Rollennarrativs bildet.

Es ist an der Zeit für ein Narrativ ausserhalb der Angst, ausserhalb der Schuld, ausserhalb der Hierarchie, für eines, das uns Menschen intersubjektiv weiterträgt. So lange aber die Angst befürwortet wird als notwendiges Gefühl und die Schuldgefühle als notwendiges Übel, so lange werden die bestehenden Machtverhältnisse konsolidiert und die Rollen, nicht zuletzt als Schutz vor Ausgrenzung, zementiert.

 

Jeannette Fischer arbeitete 30 Jahre lang als Psychoanalytikerin in Zürich. Sie beschäftigt sich intensiv mit der Frage der Gewalt, Macht und Ohnmacht. Sie kuratierte hierzu Ausstellungen und drehte zwei Dokumentarfilme. Ihr Buch «Psychoanalytikerin trifft Marina Abramovic» erschien im Juni 2018, «Angst – vor ihr müssen wir uns fürchten» im November 2018.

Eve Stockhammer (www.eveandart.com) ist Psychotherapeutin und freischaffende Künstlerin. In ihren Bildern und Installationen beschäftigt sie sich mit psychologischen und gesellschafts-historischen Fragen. Passend zu «Crisis and Communitas» erschienen die Bücher Geigen im Schnee: Zwei Wege des Gedenkens an die Schoa, (Eve Stockhammer, Iris Ritzmann), 2018 und Fragmente eines Tabus, sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen (Ruth Draths, Eve Stockhammer), 2017.

Dieser Beitrag wurde der Zeitschrift FemInfo 50, 2018 originalveröffentlicht. Die Bilder stammen von der Künstlerin Eve Stockhammer.