Die Krise-Communitas-Schleife im Kunstkontext. Prämisse

Text: Dorota Sajewska Nina Seiler

Der schottisch-amerikanische Anthropologe Victor Turner war massgeblich an der konzeptuellen Herausarbeitung des Zusammenhangs von Communitas und Krise beteiligt. Die Communitas als offene, egalitäre und solidarische Gemeinschaftlichkeit sucht ethnische, nationale und sozialhierarchische Grenzen wie Geschlecht oder Klasse zu überwinden und ein Gegengewicht zur «kalten», normierenden Struktur der Gesellschaft zu bilden. Gemäss Turner basiert Communitas nicht auf festen sozialen Strukturen, sondern entsteht in der Liminalität – bei Turner der liminalen Phase des Rituals – und geht mit einer damit verbundenen Nivellierung von (sozialen) Unterschieden einher. Als kollektiver Schwellenzustand zeichnet sich die Liminalität durch einen hohen Grad an Performativität der symbolischen Handlungen sowie deren transformativer Kraft aus und eröffnet somit gemäss Erika Fischer-Lichte «kulturelle Spielräume für Experimente und Innovationen»[1]. Communitas ist nach Turner die Anti-Struktur der Gesellschaft-als-Struktur, deren Mangel oder Übermass das soziale Gleichgewicht gefährden und zur Krise führen. Communitas ist zugleich die Proto-Struktur eines neuen gemeinschaftlichen Projekts, das als «das latente System möglicher Alternativen» zur normativen Struktur selbst «etwas von Fluss-Qualität [flow] besitzt»[2].

Die Krise wiederum ist nach Turner eine der vier grundlegenden Phasen des sozialen Dramas (social drama), die ähnlich der Communitas einen Grenz- und Übergangscharakter hat. Die Krise tritt aus dem Bruch der sozialen Ordnung hervor, ist Effekt konkreter Konflikte in der Gesellschaft und leitet deren Lösungsversuche ein. Somit ist die Krise Geburtsort ritueller oder neuer Formen der Communitas, die als Überwindungsprozess der Krise zutage treten. Die Bewältigung der Krise wird von Turner ebenfalls als liminale Phase bestimmt und von uns als transformative Performanz betrachtet. Diese beiden Formen sozialer Phänomene – Krise und Communitas – stehen deshalb in unmittelbarem Zusammenhang.

Die avantgardistische Kunst, die meist an den Rändern oder in den Zwischenräumen normativer Struktu­ren entsteht, wird als kulturelle Performanz mit metakom­mentierendem Charakter und als Vorläuferin innovativer Formen der Gesellschaft angesehen (siehe Fig. 1: Turner-Schechner-Schleife). In diesem Bereich symbolischer Hand­lungen existiert das Potential, Alternativen zu den in der Gesellschaft vorherrschenden Gemeinschaftskonzepten zu formulieren. Diskutiert wird somit das transformative und gemeinschaftsstiftende Potential der Kunst sowie ihr plura­listischer, fragmentarischer, experimenteller und nicht zuletzt performativer Charakter, womit ästhetische und soziale Praktiken als Verhandlungsort politischer Fragen in den Fokus rücken. Im Kontext alternativer Gemeinschaftsentwürfe, die auf die Aufhebung identitärer Differenzierungen und der hierarchischen Sozialstruktur (Status) der Gemeinschaftsmitglieder zielen, stehen der Gesell­schaft als normative Struktur oft ästhetische Projekte der existentiellen (spontanen) und ideologischen Communitas gemäss Turner entgegen. Das wird mit dem als Ergänzung zur Turner-Schechner-Schleife entworfenen Modell einer Krise-Communitas-Schleife darzustellen versucht (siehe Fig. 2). Gleichzei­tig stellt sich die Frage, wie sehr politische Normierungen die Gesellschaft selbst als ideologische Communitas konstruieren, was etwa im Kontext von Krisenphasen des sozialistischen Systems zu äusserst spannungsreichen Prozessen der diskursiven Umkehrung führen kann.

Turner als Vertreter der Anthropologie der Performanz bietet eine Forschungsperspektive, die stark auf die performativen Aspekte der Konzepte der Communitas fokussiert. In seinen Studien zum rituellen Drama verweist er darauf, dass soziales Handeln einen wiederholten Vollzug erfordert, wobei die Wiederholung zugleich als Reinszenierung und als neue Erfahrung von gesellschaftlich bereits eingeführten Bedeutungen und Zuschreibungen verstanden wird. Die Performanz erscheint in dieser Perspektive als die alltägliche und ritualisierte Form ihrer Legitimierung, die auch zur Bewältigung der als Krise identifizierten Erscheinungen in einer Gemeinschaft führen können. Wir begreifen deshalb die Performativität als relevanten kulturanalytischen Modus der Auseinandersetzung mit sozialen, politischen und künstlerischen Prozessen. Der Begriff der Communitas erscheint hier als bewegliches und wandelbares, also performatives theoretisches Konzept; ebenso wird die gemeinschaftliche Praxis performativ gedeutet.

 

[1] Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt/M: Campus 2009, S. VII.

[2] Ebd., S. 82, 92.